Der verborgene Zündstoff leer stehender Ställe
Inge Beckel
7. Februar 2011
Gabriela Gerber und Lukas Bardill, aus der Reihe «Avenue», 2011 (Bild: ©ProLitteris 2011, Courtesy: Galerie Luciano Fasciati, Chur)
Man findet sie überall, in alten Dorfkernen, an Wegrändern, auf Wiesen und an Hängen, als Clusters, über Flächen verstreut, alleine. Meist stehen sie seit Jahrzehnten, oft unauffällig, zuweilen baufällig. Die veränderten Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft haben die Mehrzahl von ihnen hinfällig gemacht. Von Inge Beckel.
Was soll mit leer stehenden Ställen geschehen? Zwei aktuelle Ausstellungen gehen dieser Frage nach. Im Vorarlberger Architektur Institut vai in Dornbirn ist «Der nicht mehr gebrauchte Stall» zu sehen, eine Ausstellung, die letzten Sommer im Gelben Haus in Flims gastierte und wozu ein gleichnamiges Sonderheft bei Hochparterre erschienen ist; und in der Galerie Luciano Fasciati in Chur ist «Avenue» ausgestellt, eine Fotoserie des Künstlerpaars Gabriela Gerber und Lukas Bardill, die auf einer Installation von 18 ausgeleuchteten Ställen bei Grüsch basiert, wobei die Ritzen zwischen den vertikalen Brettern unterschiedlich hell erscheinen: Dichte Fugen wirken zurückgenommen, undichte leuchten strahlender, womit Kunst gleichsam zum Röntgenbild eines Stallbaukörpers wird.
Warum dieses Thema? Wie schon erwähnt: Ställe sind omnipräsent! Fährt man durch die Landschaften der Alpen und Voralpen – sei es in der Schweiz, in Süddeutschland, Österreich oder im italienischen Südtirol –, die meist hölzernen, mit Satteldächern eingedeckten Gebilde finden sich in den Hängen der ehemaligen Weideflächen ebenso wie in der Ebene, auf Feldern, neben Kirchen oder alten Bauernhäusern. Doch wo sind die Bauern und Bäuerinnen, die all diese kleinen Ökonomiegebäude bewirtschaften? Täglich verschwinden Höfe, hört man in den Nachrichten, sie rentierten nicht, liessen sich nicht in einer heute als ökonomisch geltenden Grösse bewirtschaften. Denkt man zudem an das Lagern von Heu, so findet sich dieses derzeit vermehrt in weissen oder grünlichen Plastikballen denn in hölzernen Heuschuppen.
Konkret: Die Mehrzahl der Ställe ist nutzlos geworden. Dennoch stehen sie meist noch, harren hartnäckig aus und trotzen ihrer Vergänglichkeit. Denn wir Menschen wollen sie in der Regel nicht abreissen. In der Architektur sind Ställe gewissermassen Urhütten, ein Symbol der Urfunktion des Bauens. Ställe bieten Schutz. Auch emotional vermitteln sie etwas Urtümliches, bedeuten Verlass, schliesslich waren sie meist schon da, als wir Zeitgenossen es noch nicht waren. Sie erinnern uns an das Leben auf der Scholle, das unsere Vorfahren führten. Ställe bedeuten Wurzeln, unsere Wurzeln. Dass das Leben auf der Scholle oft karg und entbehrungsreich war, das blenden wir aus, vergessen es, ja, wissen es nicht. Vielmehr brauchen wir die alten Ställe als Teil unseres kollektiven Gedächtnisses, wie Hans-Peter Meier weiss. Doch nun sind sie oft nutzlos – und Nutzlosigkeit, so lernen wir, entzieht einem sinngemäss die Existenzberechtigung.
Gabriela Gerber und Lukas Bardill, aus der Reihe «Avenue», 2011 (Bild: ©ProLitteris 2011, Courtesy: Galerie Luciano Fasciati, Chur)
Verdichten versus Motor neuer ZersiedelungLassen es Raumplanung und Baugesetz zu und ist die Gestaltung (hoffentlich!) befriedigend, so sind Ställe innerhalb oder nahe bewohnter Siedlungskerne oft bewohnt. Ob grosszügig oder kleinteilig, das Holz, das Ställe in der Regel prägt, wirkt für viele heimelig. Zudem tragen bewohnte Ställe in Dörfern zur Verdichtung – der Bewohnerschaft – bei. Im Bregenzerwald und Montafon in Vorarlberg etwa, eine Region, die in der derzeitigen Ausstellung in Dornbirn neben dem Südtirol und Graubünden untersucht wurde, findet heute eine Umorientierung auf den Bestand statt. Bevor neu gebaut wird, soll Bestehendes, das leer steht, wiederbelebt werden. Im Südtirol sind Ställe, die landwirtschaftlich nicht mehr genutzt werden, fast ausnahmslos bewohnt, die dortigen Gesetze lassen dies problemlos zu. Beliebt sind Ställe auch als Ferienhäuser. Im Fokus stehen hier oft Bauten, die in der Schweiz ausserhalb der Bauzone liegen. Wollen ihre Besitzer oder andere Interessierte diese um- oder ausbauen, haben sie ein juristisches Problem.
Doch der Ausbau eines ausserhalb der Bauzone liegenden Stalles ist auch ein landschaftliches Problem. Menschen des frühen 21. Jahrhunderts haben sich daran gewöhnt, bis vor die Haustür fahren zu können, sei es mit dem Auto oder mit dem öffentlichen Verkehr. Einkaufstaschen schleppen, die Bücher, die in den Ferien gelesen werden wollen, die Sportausrüstung… alles muss ins Ferienhaus, möglichst ohne Anstrengung. Das Umnutzen zu Ferienhäusern von verstreut stehenden Ställen bedeutet in der Folge, dass neue Strassen gebaut oder ehemalige Feldwege geteert werden. Strassen aber sind Bauten und damit Teil und Motor neuer Zersiedelung. Werden alte Ställe umgebaut, werden sie in der Regel an Wasser und Kanalisation angeschlossen. Während ein Stall früher nur ein Dach über dem Kopf bedeutete – für Mensch, Tier oder Gerätschaft –, wird dieser Stall heute schnell zu einer Wohnmaschine, wo weder Haustechnik noch Zufahrtsstrasse fehlen dürfen. Derlei Umbauten bedeuten nicht das Weiterführen von Bestehendem, sondern das Fortführen der Zersiedelung!
Gabriela Gerber und Lukas Bardill, aus der Reihe «Avenue», 2011 (Bild: ©ProLitteris 2011, Courtesy: Galerie Luciano Fasciati, Chur)
Sein lassen oder wiederbelebenLeere Ställe, wie wir sie vorfinden, sind Zeugen vergangener Zeiten. Wir können sie abreissen. Wir können sie auch einfach stehen lassen. Im Safiental beispielsweise wird versucht, ihre Dächer zu reparieren, um sie dem Landschaftsbild und unserem kollektiven Gedächtnis länger erhalten zu können. Gleichzeitig gab und gibt es immer Ruinen – Bauten, die, ihrer Nutzung entledigt, einfach sind. Und jedes Jahr ein Stückchen «schrumpfen». Sie setzen unsere Vorstellungskraft in Gang, Architektinnen überlegen, was zu tun wäre, um sie wieder auferstehen zu lassen, Künstler setzen sie ins rechte Licht, Wanderer imaginieren eine wettergeschützte Pause, gewisse Leuten denken an die Arbeit, die früher dort zu verrichten war, und freuen sich ob der «gewonnenen» Freizeit, Kinder lieben sie als Versteck. Die verstreut in der Landschaft stehenden Ställe, wir können sie in Würde sterben lassen – und damit dem Lauf der Dinge wie den Träumen der Vorbeikommenden überlassen. Dereinst werden Archäologen sie als Wüstungen beschreiben.
Eine andere Möglichkeit ist, sie in zeitgenössische ökonomische Zyklen zu reintegrieren, also wieder nutzvoll werden zu lassen. Irmi Seidl vom WSL in Birmensdorf beispielsweise geht davon aus, dass die sich verändernde Energieversorgung inskünftig auch unser Leben nachhaltig verändern wird (vgl. «Differenzen stärken», Gespräch mit Irmi Seidl und Gion A. Caminada, tec21 48|2010). Seidl will aber nicht etwa Solarenergie aus Afrika nach Europa importieren, sondern meint, lokale Ressourcen sollten wieder verstärkt lokal genutzt werden, auch Lebensmittel und Rohstoffe generell. Damit würden Wirtschaftskreisläufe näher an die Regionen gebunden, wo sie sich unmittelbar physisch befinden, was auch bedeutete, die Landwirtschaft nicht auf wenige, immer grössere Betriebe auszurichten, sondern in überschaubaren Einheiten und lokal verankert zu produzieren – womit auch alte Ställe wieder genutzt werden könnten.
Angesichts der anstehenden Revision des Raumplanungsgesetzes – wo von verschiedenen Seiten für eine Lockerung der Nutzungsmöglichkeiten von Ställen ausserhalb der Bauzone lobbyiert wird – bergen leer stehende Ställe einigen Zündstoff. Eine Lockerung ausserhalb der Bauzonen darf es nicht geben, gleichzeitig gibt es kein Patentrezept im Umgang mit leer stehenden Ställen. Gefragt sind vielmehr differenziertes Abwägen und zukunftsträchtiges, lokales Handeln.