Denkmalschwemme – wird zu viel geschützt?
Manuel Pestalozzi
8. Dezember 2016
Sündenfall in Regensdorf bei Zürich. Hier stand einst das Haus Fröschegrueb. Bild: Manuel Pestalozzi
Die Verantwortung für die gebaute Vergangenheit lastet auf unseren Schultern. Bislang macht es den Eindruck, dass sie laufend schwerer wird und die Bedeutung von Schutzmassnahmen für die Allgemeinheit vager. Eine Debatte tut not.
Es gibt wohl wenige Gebiete, auf denen Emotionen, Moral, Ideologie und rationales Denken schmerzhafter aufeinandertreffen als im Bereich der geschützten Bauten und Landschaften. Unzählbar sind die guten Gründe, an Hergebrachtem zu hängen und für dessen Erhalt zu kämpfen. Es gibt häufig ebenso gute Argumente für dessen Beseitigung. Dann braucht es wenig, bis die Nerven blank liegen und die Gegenpartei ins Pfefferland gewünscht wird. Und da die Emotionen in dieser Sache der treibende Faktor sind, erlaubt sich der Verfasser, in diesem Beitrag keine Gesetze oder Regelwerke zu zitieren und keine Statistiken beizuziehen sondern sich ganz auf persönliche Wahrnehmungen und Empfindungen zu beziehen. Er beschränkt sich auf Ereignisse und Ursachen rund um den Schutz von Bauten.
Bauten werden gepflegt und geschützt, wenn sie jemandem gehören, denen sie lieb sind. Oder wenn sie für die Allgemeinheit eine Bedeutung haben. Im ersten Fall ist die Sache klar: Schutz und Pflege bestehen so lange, wie die Liebe und Wertschätzung anhält (und die Finanzen es zulassen). Im Idealfall werden diese emotionalen Bindungen von einer Generation zur nächsten vererbt. Unendlich komplexer ist das zweite Szenario. Denn sowohl die Allgemeinheit als auch die Bedeutung lassen sich weder räumlich noch zeitlich eindeutig eingrenzen respektive festlegen. Was im Bündnerland nicht schützenswert ist, ist es möglicherweise im Kanton Solothurn absolut. Was man heute in Zürich als wichtiges Zeitzeugnis feiert, gilt übermorgen am selben Ort als alter Schrott.
So stellt sich die Frage nach der Deutungshoheit. Was ist im Dienste der Allgemeinheit zu schützen, was darf weg? Entschieden wird dies nicht durch die Allgemeinheit selbst sondern durch Personen, die sich auf dieses Gebiet spezialisiert haben, im Solde des Staate stehen oder sich in Heimatschutz-Spezialvereinigungen sammeln. Es ist in erster Linie eine Disziplin der Kunstwissenschaften, welche Bauwerke untersucht, wertet und anschliessend mit einer fachlichen Begründung bestimmt, was nicht vernichtet oder entfernt werden darf, was vor dem Zerfall zu bewahren und gegebenenfalls in einen früheren Zustand zurückzuführen ist. Naheliegenderweise lassen sich entsprechende Entscheide nicht mit mathematischer Präzision treffen. Es mag wohl Vergleichswerte geben. Oft, so ist allerdings zu befürchten, folgt man allgemeinen Trends der wissenschaftlichen «Szene».
Der aktuelle Trend scheint der einer schwer zu kontrollierenden, in den allgemeinen Wohlstand eingebetteten Sammlerwut zu sein. Da wird etwas Wichtiges erfasst, dort etwas ganz Spezielles gefunden. Eine wachsende Anzahl von Liegenschaften wird inventarisiert, immer grössere Gebiete des Siedlungsgebietes erfahren Musealisierungen unterschiedlicher Intensität. Die Zeit soll an einer zunehmenden Zahl von Orten zumindest partiell erstarren, dieser Wunsch scheint dahinterzustecken. Mit dem heiligem Eifer von Inquisitorinnen und Inquisitoren stürzen sich die Fachkräfte in dieser Top down-Angelegenheit auf Profanbauten und geben ihnen, Eigentumsverhältnisse hin oder her, die Aura des Sakralen. Das ist in unserer Kultur neu, einmalig und demokratisch fragwürdig. Wie konnte es überhaupt so weit kommen?
Fall Haus Fröschegrueb, Regensdorf (ZH)
Es steht nicht mehr, das Bauern- und Handwerkerhaus Fröschegrueb aus dem Jahr 1559. Der Blick fällt in diesem Bild direkt auf die Stelle im Zentrum von Regensdorf, die es während Jahrhunderten einnahm. Eine spürbare Lücke kann man als Ortsunkundiger schlecht ausmachen. Die Umgebung ist heterogen bebaut, teilweise mit neuen, sich «bäurisch» gebenden Mehrfamilienhäusern Der Eigentümer der Fröschegrueb leistete keinen Unterhalt. Sein passiver Widerstand gegen die Permanenz des Schutzobjekts dauerte so lange, bis das Haus als einsturzgefährdet galt und deshalb abgerissen wurde. Aus dem Ort sind keine grossen Proteste bekannt, die Gemeindeverwaltung muss sich «passive Mittäterschaft» vorwerfen lassen. Doch der Zürcher Heimatschutz wehrte sich. Das Zürcher Baurekursgericht fand anfangs dieses Jahres, eine originalgetreue Rekonstruktion der Hauptliegenschaft sei dem Eigentümer zuzumuten. Ob es so weit kommt?
Der Screenshot von der Website www.heimatschutz-zh.ch des Zürcher Heimatschutz ZVH zeigt eine alten Aufnahme des Haus Fröschegrueb. Man vergleiche mit dem legendären Kleinjogghof, unten, aus dem Jahr 1563 im intakten Weiler Katzenrüti, 3,2 Kilometer Luftlinie vom Standort Fröschegrueb entfernt und immer noch als Landwirtschaftsbetrieb genutzt. Fazit: Die Einmaligkeit von geschützten Bauten oder deren Typologien ist gelegentlich durchaus diskutabel. Bilder: Manuel Pestalozzi
Von der Gegenposition zur Liebhaberei
Es muss mit aller Klarheit festgestellt werden, dass die Unterschutzstellung eines Bauwerks eine Teilenteignung ist. Die Eigentumsrechte werden gegenüber jenen von Besitzerinnen und Besitzern eines nicht geschützten Bauwerks deutlich eingeschränkt. Dieser Akt erfolgt mindestens im Raum Zürich nicht nur ohne Konsultation, sondern auch ohne Benachrichtigung: Wer hierzulande am Bestand bauliche Änderungen vornehmen will, hat die Pflicht, von sich aus vorgängig zu prüfen, ob die Liegenschaft diesbezüglich inventarisiert ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Überraschungen kommt und sie es ist, war nie grösser.
Der Grund für diese weit reichenden Schutzeingriffe bei einer wachsende Zahl verschiedener Bautypen muss primär auf den Bauboom der Hochkonjunktur zurückzuführen sein. Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Erdölschock in den 1970er Jahren fand vielerorts im Siedlungsgebiet ein Massstabssprung statt. Bedenkenlos wurden alte Strukturen weggeräumt, sie mussten neuen Dimensionen, neuen Nutzungen, neuen Baumaterialien, einem neuen Zeitempfinden Platz machen. Erst mit den Umbrüchen rund um 1968 gelangten grössere Bevölkerungsschichten zur Einsicht, dass Unwiederbringbares verloren geht. Mit dem Schutz alter Strukturen und Quartierbilder zeigte man im öffentlichen Raum ganz konkret die Grenzen des Wachstums auf und gab sich bisweilen auch einer romantischen Nostalgie hin. Bisweilen hat man heute wirklich den Eindruck, dass die Schutz- und Erhaltungsaktivitäten als Liebhaberei betrieben werden - wogegen nichts einzuwenden ist, solange nicht die Allgemeinheit dafür zur Kasse gebeten wird. Bemerkenswerterweise wurden die Dimensionierung und die Führung von Verkehrswegen, insbesondere von Strassen jenseits der historischen Tremola, kaum je in diese Schutzüberlegungen mit einbezogen.
Von sauber und gut zu dreckig und schlecht. Die negative Darstellung des Baubooms der Hochkonjunktur prägte die Generation der Babyboomer. Das spürt man bei der aktuellen Praxis der Unterschutzstellung. Bilder aus der Serie «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder» des Grafikers Jörg Müller aus dem Jahr 1973.
Die Entscheidungsträgerinnen und -träger bei den heutigen Unterschutzstellungen sind hierzulande wahrscheinlich mit dem Bild des Bauens als Umweltzerstörung aufgewachsen. Schutzmassnahmen für den Bestand sehen sie deshalb unter Umständen auch als Mittel, um als negativ empfundene Entwicklungen einzudämmen oder immerhin zu bremsen. Zum Sammlertrieb und der erzieherischen Grundhaltung, ohne die Denkmalpflege keinen Sinn macht, gesellt sich somit eine politische Stossrichtung, die oft eine links-konservative Ausprägung hat. In diesem Kontext ist es erstaunlich, dass die Deutungshoheit der zuständigen Instanzen bei der Unterschutzstellung nicht stärker in die Kritik gerät.
Eigentlich sollte sie das. Denn der Umgang mit der Geschichte ganz allgemein ist heute eine äusserst fragwürdige Angelegenheit. Es darf nicht sein, dass man gesellschaftliche Umwälzungen und die mit ihnen einhergehenden Brüche mit obrigkeitlichen Dekreten und einem Narrativ der Pseudo-Idylle übertüncht. Und oft macht es den Anschein, dass die Botschaft der Unterschutzstellung genau so ankommt. Gerade in Zeiten des verbreiteten Learning from Disney and Pixar besteht die Gefahr, dass mit dem Schutz historischer Bausubstanz Ereignisse der Vergangenheit verzuckert und in ihrer Bedeutung total aus Zusammenhang und Proportionen gerissen werden – auch wenn sie im schweizerisch wissenschaftlich-biederen, kontextuellen Kleid daherkommen.
Fall Gartensiedlung Sängglen, Pfaffhausen (ZH)
Bei diesem Quartier sind es Eigentümer, die beim Kanton aktiv um eine Unterschutzstellung ersucht haben. Das Geschäft ist pendent und umstritten. Grund für das Ersuchen: Man will verhindern, dass andere Eigentümerinnen und Eigentümer das Gesamtbild der in den früheren 1960er-Jahren realisierten Anlage beeinträchtigen können. Bilder: map.geo.admin.ch (oben), Manuel Pestalozzi
Wider die Scheinheiligkeit
Zahlreich sind die Stimmen, welche mit Nachdruck darauf hinweisen, dass der kreative Umgang mit geschützter Bausubstanz für die Allgemeinheit ein grosser Gewinn sein kann. Ein grosser Aufwand wird betrieben, um Bauwillige und -tätige mit Material über vorbildliche Projekte zu versorgen. Gerade eben hat das Amt für Denkmalpflege des Kantons Thurgau dazu eine Publikation herausgegeben: Baudenkmäler im «Dichtestress»? Grundlagen und kreative Lösungswege (ISBN 978-3-7965-3610-6, Schwabe Verlag Basel). Zahlreiche Beiträge befassen sich mit Fallbeispielen zum Umnutzen, Auffüllen, Ersetzen und, eben, Verdichten. Obwohl das Werk nüchtern daher kommt, wissenschaftlich aufgemacht ist und mit guten Argumenten und Massnahmen keineswegs geizt, kommt man nicht umhin, manche Massnahmen und Vorgänge als Gentrifizierungs-Schritte zu identifizieren. Wie könnte es anders sein? Die Welt von heute ist nicht jene von gestern.
Die Schweiz ist kein reiner Erholungs- oder Vergnügungspark. Noch nicht. Deshalb kann sie sich eine unbeschränkt hohe Denkmaldichte kaum leisten. Die Zunahme an geschützten Objekten bergen das Potenzial, den wirtschaftlichen Fortschritt empfindlich zu bremsen und das Bauen zu verteuern. Wie weiter oben angetönt, ist auch die Praxis der Unterschutzstellung immer ein Kind seiner Zeit. Der Moment ist gekommen, sich diesbezüglich von der defensiven Betrachtungsweise der 1968er zu lösen und auch der Denkmalpflege dem Stempel der Gegenwart aufzudrücken. Dazu wäre eine breite Auseinandersetzung nötig, was geschützte Bauten überhaupt sollen und welche Funktionen sie zu erfüllen haben. Konservatorische Eingriffe und Rekonstruktionen müssen spürbar auf die Gegenwart ausgerichtet sein und direkt von deren Bedürfnissen zeugen. Ansonsten laufen sie Gefahr, scheinheilig zu sein und für viel Geld etwas vorzublenden, was mit der allgemeinen Realität wenig zu tun hat.
Fall Arboretum, Zürich
Wie in Indien die heilige Kuh, liegt dieses geschützte Bunkerli auf der neuen Seepromenade beim Hafen Enge am Seebecken von Zürich – und es ist nicht das einzige in der Umgebung. Keine Meisterleistung der Baukunst, aber Teil der Limmatstellung, einem Verteidigungswerk von 1940, dessen aktive Lebensdauer kürzer war als jene der Expo 02. Was noch fehlt sind die Spezial-Betonsanierung und die Absturzsicherung auf dem Dach. Bild: Manuel Pestalozzi