Arbeitersiedlung, Weltkulturerbe

Inge Beckel
4. Mai 2017
Blick aus dem 1. Obergeschoss der Maison municipale, 4, Rue Le Corbusier, Pessac. Bild: ib

Henri Frugès (1879–1974) war ein Zucker-Industrieller. Nachdem er in den frühen 1920er-Jahren einen Text eines damals noch unbekannten Architekten gelesen hatte, war er derart fasziniert von dem, wovon der junge Utopist schrieb, dass er umgehend beschloss, mit ihm eine Siedlung für seine Arbeiter zu bauen – mit Le Corbusier. Der Text, der Frugès derart inspiriert und gefesselt hatte, entstammte der Textsammlung Vers une architecture, einer Publikation, die 1923 in Paris erstmals erschienen und mit der der noch junge Architekt einem breiteren Publikum bekannt geworden war.

Blick in den Gartenbereich zwischen einem «Hochhaus» und einem Einzelhaus. Bild: ib

Cité Frugès
Frugès kaufte ein Stück Boden in Pessac. Das Land war günstig, lag es doch ausserhalb des Ortskerns am Waldrand. Die Gegend galt mit ihrer frischen Luft und der südlichen Sonne zudem als gesund und stellte sinngemäss eine Art Prophylaxe gegen die nach 1900 grassierende Tuberkulose dar. Architekt und Bauherr planten 127 Häuser für Arbeiterfamilien aus Frugès’ Unternehmen. Le Corbusier soll zuerst nur einen Haustyp vorgesehen haben. Frugès aber verlangte nach Variationen – und wollte damit den Arbeiter in seiner Individualität verstanden wissen.
 
Gebaut wurden schliesslich 51 Häuser in sieben Variationen: der Zigzag-Typ, die «Hochhäuser» – Gratte-ciel, dann die Typen Arcade und Quinconce, Jumelles und einzelne freistehende Einzelhäuser sowie ein inzwischen zerstörter Haustyp. Dass nicht die geplanten 127 Häuser gebaut wurden, hatte wirtschaftliche Gründe, wie man auf einer Führung durch die Maison municipale Frugès – Le Corbusier, gelegen 4, Rue Le Corbusier, erfahren kann. Denn die Wirtschaftskrise von 1929 hatte bereits ihre Schatten vorausgeworfen, Baumaterialien waren generell teuer.

Nach Fertigstellung 1926 blieben die 51 Bauten jedoch noch vier Jahre leer. Dies, weil die Behörden damals der Siedlung äusserst skeptisch gegenüberstanden und beispielsweise die ortsuntypische Architektur kritisierten. Sie schlossen die Siedlung zuerst nicht an die Infrastruktur an! Erst 1930 war es soweit und die ersten Arbeiter konnten mit ihren Angehörigen einziehen, die ihre Einheiten Frugès abgekauft hatten. Wie man vor Ort ebenfalls erfährt, lag der Preis damals bei umgerechnet 15'000 Euro, was rund 20 Prozent des Erstellungswertes entsprach.

Typ Gratte-Ciel, wobei dieser 2 Einheiten beherbergt, die gegengleich angeordnet respektive gespiegelt sind. Bild: ib

Es war für den enthusiastischen und mutigen Unternehmer Frugès – der selbst künstlerisch tätig und gegenüber der Kultur generell sehr aufgeschlossen war – ein absolutes Verlustgeschäft. Frugès musste Konkurs anmelden und schloss seine Pessacer Geschäfte. Für eine Weile soll er daraufhin nach Nordafrika in vormalig französisches Kolonialgebiet gegangen sein. Als im Zweiten Weltkrieg die Region Bordeaux bombardiert wurde, wurde eines der Häuser der Cité Frugès zerstört, liegt die Siedlung doch direkt an der nach Arcachon und weiter an die Küste führenden Eisenbahnlinie.

Geächtet, angeeignet, ausgezeichnet
Während der Bombardierung 1942 barsten in einem Umkreis um die Bombeneinschläge sämtliche Glasscheiben – so auch die Fenster der Cité Frugès. Nun war Glas zur Kriegszeit aber teuer, zudem waren Formate, wie es die Bandfenster in den modernen Häusern der Cité darstellten, unüblich und folglich schwer zu finden. Gleichzeitig wollten und mussten die Bewohner ihre Häuser instand stellen. Was in der Folge demnach geschah, war, dass die Besitzer die Fensteröffnungen teilweise in Formate und Grössen umbauten, wofür sie Ersatzfenster finden konnten.
 
Heute gehört die Cité Frugès zum Weltkulturerbe. Mit 16 weiteren Werken Le Corbusiers ist sie seit 2016 bei der Unesco gelistet. Nachdem am Anfang ihrer Geschichte die Häuser nicht einmal bezogen werden konnten, dann aber von den Bewohnerinnen und Bewohnern angeeignet worden und, nach dem Angriff 1942, repariert worden waren, sind sie nun, 90 Jahre nach ihrer Fertigstellung, zu höchsten kulturellen Ehren gekommen. Was für die Besitzer nunmehr aber heisst, dass sie die Architektur fortan originalgetreu sanieren oder in Teilen gar wiederherstellen müssen.

Typ Quinconces. Zäune wie dieses Eisengitter müssen fortan bei Sanierungen in den ursprünglichen Zustand rückgeführt werden. Bild: ib

Die Cité Frugès stellt die erste Umsetzung der Corbusier’schen Theorie dar – und dies in einem ganzen Stadtteil. So sind alle Bauten kubisch ausgestaltet, flach eingedeckt und weisen grossenteils einen Dachgarten auf. Zudem sind sie als «plan libre», freier Grundriss, konzipiert und infolgedessen durch eine freie Fassadengestaltung charakterisiert, wie sich an den Bandfenstern ablesen lässt. Weiter stehen sie auf «pilotis», wenngleich die Erdgeschosse teils geschlossen sind. Auf Bodenniveau fanden sich Waschraum und Holzlager.
 
Konkrete Utopie
Der Philosoph Ernst Bloch hatte einmal den Begriff der konkreten Utopie geprägt, mit dem der Zustand einer real möglichen, realisierbaren Gesellschaftsveränderung gemeint ist. Der Zucker-Industrielle Henri Frugès und der Querdenker Le Corbusier haben in Pessac zusammen ein Beispiel einer konkreten Utopie geschaffen, nämlich gesunde, für damalige Verhältnisse technisch bestens ausgestattete, Arbeiterhäuser in parkähnlicher Landschaft. In der Konzeption wohlgemerkt über drei Jahre vor der Werkbundsiedlung auf dem Weissenhof in Stuttgart, die 1927 gebaut wurde.

Obwohl die Siedlung in Pessac ein Vertreter einer modernen Gartenstadt ist, ist sie hoch verdichtet. So weist die Maison Arcade auf zwei Geschossen 85m2 bewohnbare Fläche mit vier Zimmern auf, die Maison Gratte-Ciel auf vier Geschossen 75 m2 und drei Zimmer oder die Maison Jumelle vier Zimmer auf 100 m2, die sich über drei Niveaus erstrecken. Die Gärten dienten als Anbaufläche für Gemüse oder zur Hühnerhaltung, womit die Bewohnerschaft fast autark leben konnte. Eine solche Verdichtung hinsichtlich Wohnen sowie die Selbstversorung haben, jedenfalls aus heutiger Sicht, utopische Züge. Heute wohl nicht länger als fortschrittliche Arbeitersiedlung, sondern als Beispiel einer Beschränkung auf das Wesentliche, nunmehr für den Mittelstand.

Typ Arcade. Die Häuserreihe grenzt noch heute unmittelbar an einen Wald. Bild: ib

Verwandte Artikel

Vorgestelltes Projekt

Haller Gut

Sportanlage Hüssenbüel

Andere Artikel in dieser Kategorie