Wegducken ist keine Option
Elias Baumgarten
23. März 2023
Andreas Reinhardt (links) und Sergio Marazzi (Foto: Nadia Bendinelli, inedito)
Sergio Marazzi und Andreas Reinhardt sind überzeugte Generalisten. Sie fordern für sich als Architekten eine Führungsrolle im Bauprozess ein und sind gerne bereit, Verantwortung zu übernehmen. Ein Porträt.
Die letzten Jahre haben unsere Sicht auf die Welt verändert. Waren Krisen vormals vermeintlich weit weg, sind sie mit einem Mal ganz nah, betreffen uns unmittelbar: Die Folgen des Klimawandels sind kaum noch zu übersehen – auch in der Schweiz, wo die Gletscher rasch schmelzen und die Dürregefahr steigt. Erderwärmung und Umweltzerstörung sind Gegenstände des politischen Diskurses geworden. Vor drei Jahren erreichte die Corona-Pandemie unser Land. Wir mussten erfahren, wie fragil vieles ist, was wir bis anhin für selbstverständlich hielten: unsere Gesundheit, unser unbeschwertes Sozialleben, unser Wohlstand, unsere gesicherte Existenz. Vor gut einem Jahr schliesslich überfiel Wladimir Putin die Ukraine – es herrscht wieder Krieg in Europa. Wir diskutieren über Verteidigung, das Konzept der Neutralität, Waffenlieferungen und die Sicherstellung der Energieversorgung. Und ein baldiges Ende des Konflikts ist derzeit nicht in Sicht, stattdessen wachsen auch die Spannungen zwischen China, das immer näher an Putins Russland rückt, und den Vereinigten Staaten in beunruhigender Weise. Im Alltag wird unterdessen die rasch voranschreitende Teuerung für viele Menschen zum Problem – genau wie der Mangel an bezahlbarem Wohnraum.
Doch was bedeutet all das für ein Architekturbüro? Wie verändern die krisenhaften Entwicklungen der letzten Jahre Denkhaltung und Weltsicht von Architektinnen und Architekten? Inwiefern entwerfen sie sogar mit?
Foto: Nadia Bendinelli, inedito
Foto: Nadia Bendinelli, inedito
Altes Verantwortungsbewusstsein, neue ThemenSergio Marazzi und Andreas Reinhardt spüren schon immer eine gesellschaftliche Verantwortung. Architektur habe einen überprivaten Charakter – das sagten die beiden schon vor Jahren. Doch die Erfahrungen der letzten Zeit haben ihre Haltung geschärft. Besonders viele Gedanken machen sie sich über die Kreislaufwirtschaft und die Nachhaltigkeit ihrer Projekte. Bei der Sanierung der Siedlung Buchhalden in Kloten beispielsweise haben sie sich eingehend mit der ökologischen Gesamtbilanz beschäftigt. Welche Massnahmen sind sinnvoll bei einer Sanierung, die die Bauten noch einmal für dreissig Jahre fit machen soll? «Wir haben gelernt, wie lange es braucht, ehe sich der Austausch von Teilen hinsichtlich der Umweltbelastung amortisiert», sagt Andreas Reinhardt. Zehn Jahre sind es etwa, tauscht man nur die Fenstergläser aus, zwanzig, wechselt man die Fenster komplett (in Kombination mit dem Änderung der Wärmeerzeugung von fossilen Energieträgern zu Holz). Die Hüllen der Wohnhäuser werden darum mit nur wenigen Massnahmen instand gesetzt, selektiv werden einzelne Bauteile erneuert. Die Eingriffstiefe ist gering, aufwendige Anschlüsse und Übergänge lassen sich so vermeiden. Die Erneuerung der Heizzentrale sorgt für eine bessere Energiebilanz und weniger Emissionen. Ökologisch ist dieser Schritt besonders vorteilhaft. Der günstige Wohnraum bleibt erhalten, eine Strangsanierung mit dem Ersatz der Küchen und Bäder hebt jedoch den Komfort. Ein neuer Gemeinschaftsraum wird den sozialen Zusammenhalt der Bewohnenden stärken.
Das Projekt zeige aber auch die Limiten der Wiederverwendung gebrauchter Teile auf, sagt Sergio Marazzi. Die Idee etwa, die alten Fenster, Küchen und Sanitärapparate für ein Projekt von baubüro in situ in Portugal weiterzugeben, musste verworfen werden, obwohl die Bauherrschaft schon Geld für den sorgfältigen Ausbau und die Wiederverwendung gesprochen hatte. Der Plan scheiterte an der Logistik und den fehlenden Strukturen. Noch funktioniere Re-Use wohl nur im Kleinen, bei einzelnen Vorzeigeprojekten, bilanziert Andreas Reinhardt, und die Ernüchterung darüber ist ihm anzumerken. Bis die Nutzung gebrauchter Teile einmal gängige Praxis ist, liegt noch ein weiter Weg vor uns. Auch wenn es bis vor rund hundert Jahren durchaus üblich war, Materialien aus alten Bauten neu zu verwenden.
Im neuen Gemeinschaftsraum der Siedlung Buchhalden in Kloten (Foto: © Marazzi Reinhardt)
Der günstige Wohnraum blieb erhalten, neue Küchen und Bäder sorgen jedoch für mehr Komfort. (Foto: © Marazzi Reinhardt)
Lageplan (© Marazzi Reinhardt)
Grundriss Erdgeschoss (© Marazzi Reinhardt)
Doch ist das Bauen mit alten Elementen überhaupt immer richtig? «Ich habe Vorbehalte, ob wir tatsächlich stets in der Lage sind, aus gebrauchten Teilen auf breiter Front qualitätsvolle Architektur zu machen», meint Sergio Marazzi. Das lässt aufhorchen, sehen andere Architekturschaffende doch grosses Potenzial in alten Bauteilen und den Geschichten, die ihnen anhaften. Die deutschen Architektinnen Margit Sichrovsky und Kim Le Roux etwa glauben, mit ihnen besonders identitätsstiftende Architektur schaffen zu können. «Natürlich, bei Nischenprojekten wie unserem ‹Haus zum Pudel› ist das Potenzial gross. Was aber ist mit Bauten, die am Markt funktionieren müssen? Da braucht es aus unserer Sicht auch ökonomische Anreize von aussen», gibt Andreas Reinhardt zu bedenken. «Wichtiger wäre, dass neue Bauten kreislauffähig sind. Hier besteht grosses Potenzial. Und was wir völlig ausser Acht lassen, sind Sanierungen. Ein grosser Teil unseres Gebäudeparks ist gebaut. Er muss demnächst überholt und vielleicht auch umgestaltet werden. Um die passenden Teile zu finden, müssten wir über einen riesigen Bauteilkatalog und die entsprechende Logistik verfügen.»
Woran aber scheitert die Entwicklung kreislauffähiger Bauten heute noch? Die beiden Winterthurer sehen einen Hemmschuh in Normen und gesetzlichen Regelungen. Als Beispiel nennen sie die Höhenvorschriften in der jahrzehntealten BZO. In Kombination mit anderen Vorgaben, etwa zum Schallschutz, würden diese oft zur Verschmelzung von Schichten führen und additive Konstruktionen, die sich leichter demontieren und recyceln lassen, verunmöglichen.
Foto: Nadia Bendinelli, inedito
Rückbesinnung auf das GeneralistentumBei aller Kritik sind Sergio Marazzi und Andreas Reinhardt trotzdem Verfechter des Re-Use – wo immer das Prinzip sinnvoll umsetzbar ist. Sie stören sich jedoch an der Veränderung des Diskursklimas: «In den letzten Jahren stellen wir fest, dass Themen immer extremistischer behandelt werden», meint Sergio Marazzi. «Die Fähigkeit zum nüchternen Abwägen aller Vor- und Nachteile geht verloren. Die Positionen werden immer radikaler. Das gilt zum Beispiel für die Technisierung von Gebäuden, die vom Lobbyverein Minergie vorangetrieben wird. Das gilt aber auch für die Maximalforderung, gar keine Gebäude mehr abzureissen oder zwanghaft auf jedes Haus eine PV-Anlage installieren zu müssen. Baukultur, wie wir sie verstehen, erfordert ein differenziertes Denken und Handeln.» Als überzeugte Generalisten wünschen sie sich, dass Architektinnen und Architekten besonnen und angemessen agieren. Sie fordern mehr Souveränität vom Berufsstand und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Es sei gefährlich, neuen Leitbildern unkritisch zu folgen.
«Vor einigen Jahren haben wir noch an das Potenzial des Spezialistentums geglaubt», meint Sergio Marazzi. «Doch heute haben wir die Überzeugung gewonnen, dass der Bauprozess bei uns Architekturschaffenden zusammenläuft und wir die Zügel in der Hand halten müssen. Das heisst nicht, dass wir andere Meinungen übergehen. Wir können uns aber nicht vor Verantwortung drücken und müssen umfassend Bescheid wissen.» Diese Haltung leben die beiden auch innerhalb ihres Teams: Jeder Mitarbeitende ist für ein bis zwei Projekte über alle Phasen selbst verantwortlich.
Foto: Nadia Bendinelli, inedito
Engagement für die BaukulturFür ihre Haltung sind Sergio Marazzi und Andreas Reinhardt gerne bereit, die Extrameile zu gehen: Mit grosser Hartnäckigkeit und unter Einsatz ihrer Freizeit bauten sie anstelle eines verschachtelten, kaum nutzbaren Hauses mit Kioskprovisorium in Beringen ein Wohnhaus mit Ladenlokal und Bushaltestelle. Das «Haus zum Pudel», wie sie das Projekt tauften, zeigt beispielhaft, wofür die beiden Winterthurer stehen: Der Verwirklichung des Ersatzneubaus ging ein jahrelanger Verhandlungsprozess voraus, um eine gute Lösung für alle Beteiligten zu finden, die dem ganzen Dorf einen Mehrwert bietet. Die Architektur besteht aus einfachen Baustoffen, teils kamen recycelte Teile zum Einsatz. Wo immer es möglich war, wurden die Materialien unbehandelt verbaut. Die Konstruktion mit einem Zweischalenmauerwerk, das ein Holzdach trägt, ist klar und allgemein verständlich. Das erleichtert die Aneignung durch die Nutzerinnen und Nutzer. Getreu ihrer generalistischen Haltung haben die beiden Architekten, die auch als Bauherren und Investoren auftraten, alle Aspekte von der städtebaulichen Setzung bis zu den Details gestaltet. Und als gelernter Schreiner beziehungsweise Zimmermann legten sie bei der Umsetzung selbst Hand an. Die beiden wären glücklich, wenn ihr Haus als Beitrag zum Diskurs gelesen wird. Es solle zeigen, sagen sie, was möglich ist, wenn Architekturschaffende Verantwortung übernehmen und sich wieder unmittelbarer mit dem Bau und all seinen Facetten befassen. Man könne durchaus noch ohne Kompromisse gute Architektur machen.
Auch kann das «Haus zum Pudel» das Potenzial des lokalen Planens, Bauens und Lebens beispielhaft verdeutlichen, dem sich Sergio Marazzi und Andreas Reinhardt verschrieben haben. In diesem Punkt sehen sie sich durch die Ereignisse der letzten Jahre bestärkt: «Wir sehen, dass eine gewisse Robustheit wieder geschätzt wird», meint Andreas Reinhardt. «Man hört, dass Lager wieder aufgebaut werden sollen, und vielleicht werden bald Grosssägereien wieder eröffnet, die hierzulande einst aus Kostengründen geschlossen wurden. Diese Entwicklung freut uns. Zugleich sind wir keinesfalls für Abschottung und teilen die Idee, dass wir in der Schweiz alles selbst können, gewiss nicht.»
Foto: Nadia Bendinelli, inedito
Gelassene VermittlerDie letzten Jahre haben die beiden Architekten achtsamer gemacht. Ihre Sensibilität für das zukunftsfähige, menschen- und umweltfreundliche Bauen ist ebenso gewachsen wie für soziale Themen, etwa die Geschlechtergerechtigkeit. Zugleich hat sie ihre wachsende Erfahrung besonnener werden lassen. Sie sind zu integrativen Persönlichkeiten gereift und sehen sich selbst als Vermittler. «Wir haben Gelassenheit gelernt», sagt Andreas Reinhardt und fährt fort: «Gelassenheit heisst nicht Nachlässigkeit. Als junger Architekt brennt man, alles ist ganz, ganz wichtig, alles ist absolut entscheidend. Alles muss genau so sein, wie man es sich vorstellt. Doch wichtig ist in erster Linie das Endergebnis, man darf sich nicht in jeder noch so unbedeutenden Diskussion verlieren. Mit der Erfahrung lernt man, an welchen Rädchen man drehen muss, damit ein Projekt gut kommt. Wir wagen dann und wann auch Radikales, aber immer mit der Idee, eine gute Lösung für alle zu schaffen, und nie als Selbstzweck. Wir hoffen, dass unsere Arbeit als humanistische Architektur gelesen wird.»