Postkolonialismus ist jetzt – die unbequeme Erbschaft der Schweiz

Nadia Bendinelli
3. Oktober 2024
Marc-Rodolphe Sauter (1914–1983) sorgte dafür, dass die sogenannte «Rassenforschung» in Genf auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterging. Sein Ziel war, die Bevölkerung in verschiedene «Rassen» einzuteilen. Das Foto zeigt ihn 1952 beim Vermessen eines Schädels. (Foto: © Bibliothèque de Genève)

Bis vor wenigen Jahren wurde die Kolonialgeschichte europaweit ignoriert. Museen und Historiker unterlagen einer «kolonialen Amnesie». So blieb auch die Beteiligung der Schweiz an der Unterdrückung und Ausbeutung des globalen Südens unbeachtet. Seit einigen Jahren bemühen sich Forschende jedoch, diese Lücke zu schliessen.

Das Kuratorium des Landesmuseums bringt sich nun in den Diskurs ein. Dabei hat es sich für eine sehr strukturierte Lösung entschieden, um einen möglichst umfassenden, aber nicht abschliessenden Überblick zu bieten: Die Ausstellung «kolonial. Globale Verflechtungen der Schweiz» besteht aus einem Prolog zur Einführung, einem grossen historischen Teil, der in elf Themenbereiche gegliedert ist, und einem Abschluss, der den Bogen in die Gegenwart spannt – zum Beispiel durch die Debatte um Denkmäler für Persönlichkeiten mit kolonialen Verstrickungen. Die Themenbereiche werden aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, mitunter geschieht dies auch durch zeitgenössische Kunstwerke mit kritischem Bezug. Interviews zeigen, wie Menschen heute auf die unterschiedlichen Themenfelder der Schau blicken. 

Das Thema Rassismus sticht besonders hervor. Ohne diese Ideologie wäre es nicht möglich gewesen, fremde Länder mit Zustimmung und Unterstützung der Bevölkerung in der Heimat auszubeuten. Darum werden im Folgenden jene drei Kapitel der Ausstellung unter die Lupe genommen, die sich verschiedenen Aspekten des Rassismus widmen. Sie machen verständlich, warum eine rassistische Weltsicht auch in der Schweiz bis heute virulent ist.

«Maryland» – Karl Krüsi (1855–1925) arbeitete in Niederländisch-Indien auf Schweizer Plantagen. 1881 kaufte er eigenes Farmland und benannte es nach seiner Frau Mary. 1893 verkauft er die Plantage wieder. Nun sehr vermögend, baut er in Zürich die prunkvolle Villa Sumatra – heute bekannt als Villa Patumbah. Die Fotografie aus dem Jahr 1885 zeigt ihn vor seinem Haus auf Sumatra. (Foto: © Schweizerisches Nationalmuseum)
Der Tropenhelm – hier ein Exemplar aus Kongo – war das Erkennungszeichen der Kolonialherren. Sie trugen ihn zum Schutz vor der Hitze und anderen Gefahren. Die koloniale Kleiderordnung diente aber auch der Abgrenzung von der einheimischen Bevölkerung und war somit Ausdruck des Machtgefüges. (Foto: © Musée d’ethnographie de Genève)
Rechtfertigung hat viele Gesichter

Kolonien zu besitzen oder an ihnen beteiligt zu sein bedeutete, Machtpolitik zu betreiben und dem eigenen Land ökonomische Vorteile zu sichern. Doch um die Eroberung und Ausbeutung grosser Regionen und die Unterdrückung der Einheimischen zu legitimieren, brauchte es ein stärkeres Narrativ. Es wurde die Vorstellung verbreitet, in den Kolonien lebten nur minderwertige Völker, die eher als Tiere denn als Menschen zu betrachten seien. In der Ausstellung wird klar geschildert, wie in der Schweiz versucht wurde, diese krude Behauptung wissenschaftlich zu belegen. Die Besucher lernen, wie rassistische Ideologie vermittelt und propagiert wurde.

Ein Messzirkel leitet das Kapitel «Rassismus» ein – «Studien beweisen …» war leider schon immer ein Totschlagargument. Das Anthropologische Institut der Universität Zürich war zu Beginn des 20. Jahrhunderts europaweit führend und bemühte sich mit Erfolg, seine Rassentheorien zu verbreiten. Die Forscher legitimierten Rassismus, Sklaverei und Ausbeutung mit rudimentären Messmethoden, die man heute vor allem mit Nazi-Deutschland verbindet. Das System wurde am Institut entwickelt, und die Messungen nahm man in den Kolonien als Feldforschung vor, um die Theorien zu belegen. Das Elend vieler Völker ist diesen heute so absurd wirkenden Praktiken zuzuschreiben. Es ging aber nicht nur darum, eine Kategorisierung zu definieren: Die eigene «Rasse» musste vor den fremden, unterlegenen geschützt werden. Mit dem Hebel der Angst kann man bekanntlich einiges bewirken und die Hemmschwelle für Gewalt herabsetzen. Die von Schweizer Forschern mit erarbeiteten «Fakten» tauchten in allerlei Fachzeitschriften und in Reiseberichte auf. Später wurden die so etablierten Stereotypen auch in Werbekampagnen für exotische Produkte genutzt. Die sogenannte «Rassenforschung» und ihre menschenverachtenden Theorien hielten sich hierzulande bis Anfang der 1970er-Jahre.

«Aussterbende Lippennegerinnen aus Zentral-Afrika», die letzte Völkerschau der Schweiz, fand 1932 im Zoo Basel statt. Beispiele wie dieses verdeutlichen, wie alltäglich der Rassismus damals war. Im Ausstellungskapitel «Kolonialer Blick» werden Bilder von Walter Mittelholzer gezeigt. Die inszenierten Aufnahmen entstanden zu Propagandazwecken. Zu sehen sind solche Bilder auch in Mittelholzers Buch «Kilimandjaro Flug» von 1930. Eine Anekdote, von der SRF-Sendung «Zeitenblende» jüngst erzählte, macht in diesem Zusammenhang klar, wie sehr die Menschen dazumal rassistische Stereotypen verinnerlicht hatten: Das Korrektorat von Orell Füssli ergänzt Formulierungen wie «Zähne wie Sägen», um dem von den Lesern erwarteten Bild der Einheimischen besser zu entsprechen. 

Der Glaube an die vermeintliche Überlegenheit der europäischen Kultur und eine rassistische Haltung äusserten sich zuweilen auch unter dem Deckmantel der Hilfe. Die 1815 gegründete Basler Mission nahm sich vor, die «unterlegenen Menschen» zu erziehen: Sie konnten zumindest auf den richtigen Weg – gemeint ist hier der christliche Glaube – gebracht werden. Zuhause in der Schweiz wurde die zugrunde liegende Weltanschauung unmissverständliche kommuniziert: Die in den Kirchen aufgestellten Münzkästen zum Sammeln von Spenden zierten nickende schwarze Kinderfiguren. Sie lösten bei den Geldgebern zum einen das nötige Mitleid aus und vermittelten gleichzeitig die Unterlegenheit und Abhängigkeit dieser Menschen. Das Ausstellungskapitel zeigt aber nicht nur die Schattenseiten der Missionsarbeit: Der indischen Historiker Mukesh Kumar berichtet in einem Video von der sozioökonomischen Entwicklung des konvertierten Teils seines Heimatlandes. Die Rolle der Basler Mission wird dort heute mit überraschend positiven Erinnerungen verknüpft, obwohl die Missionare den Kolonialbehörden sehr nahestanden und bevorzugt behandelt wurden, wie Kumar erklärt. 

Anzumerken bleibt, dass es, obschon viele Menschen zu Kolonialzeiten rassistisch eingestellt waren und den Besitz von Kolonien für normal hielten, vereinzelt auch bereits kritische Stimmen zu vernehmen gab. 

Der Schweizer Geologe Arnold Heim (1882–1965) forschte auf allen Kontinenten. Viele seiner Reisen waren von Ölfirmen finanziert. Im Verlauf seiner Karriere entwickelte er sich zum Naturschützer und Befürworter der Dekolonisierung. Das Bild zeigt ihn auf seiner Virunga-Expedition 1954 in Uganda. (Foto: © ETH-Bibliothek Zürich)
«Denkmalsturz» – der Genfer Künstler Mathias C. Pfund stellte 2021 eine verkleinerte gestürzte Skulptur des Diamanten- und Sklavenhändlers David de Pury (1709–1786) neben die Originalstatue aus dem Jahr 1855. (Foto: © Schweizerisches Nationalmuseum)
Blick in die Ausstellung (Foto: © Schweizerisches Nationalmuseum)
Historische Kontinuitäten verstehen

Was vom Rassismus der Kolonialzeit geblieben ist, erklärt die Historikerin Ashkira Darman in einem SRF-Interview: «Es wäre schön, wenn mit den Kolonien auch der Rassismus verschwunden wäre, doch das ist absolut nicht so.» Bis heute seien rassistische Stereotypen in Bildern und Sprache verbreitet. Nicht-weisse Menschen werden, beobachtet Darman, in unserer Gesellschaft immer noch als «die anderen» wahrgenommen, eine Konstruktion, die aus der Kolonialzeit stamme. Dies bewirke, dass sich Menschen mit rassistischen Übergriffen und Diskriminierung auseinandersetzen müssen. Der eindrückliche Dokumentarfilm «Schwarzsein in der Schweiz – Rassismus im Alltag», den das SRF 2023 zeigte, bestätigt die Wahrnehmung der Historikerin. 

Das Weltbild der Kolonialzeit ist ein schwieriges Erbe, das zeigen auch andere in der Ausstellung «kolonial» besprochene Themenfelder. So besteht eine Kontinuität von der Ausbeutung der Natur und der Plantagenwirtschaft bis zum heutigen Abbau seltener Erden, der Erdölförderung oder der Abholzung der Regenwälder im globalen Süden. Die Ausstellung ist keine leichte Kost. Der Museumsbesuch erfordert Zeit, man kann «kolonial» nicht im Eiltempo erfassen, geschweige denn wirklich verstehen. Doch sich der Schau mit Ruhe zu widmen, lohnt sehr. Sie hat das Potenzial, als ein wichtiges Ereignis in Erinnerung zu bleiben. Denn zum ersten Mal wird der Kolonialismus in der Schweiz so vielfältig behandelt und aus mehreren Perspektiven beleuchtet. Die gewählten Themenschwerpunkte befähigen den Besucher, die Mechanismen des Kolonialgeistes und im besten Fall auch die Gegenwart besser zu verstehen. 

 

Die Ausstellung «kolonial. Globale Verflechtungen der Schweiz» ist bis zum 19. Januar kommenden Jahres im Zürcher Landesmuseum zu sehen. Um das Thema weiter zu vertiefen, lohnt es sich sehr, das gleichnamige Buch zu lesen, das bei Scheidegger & Spiess erschienen ist.

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