Neues aus Suisu
Ulf Meyer
17. Dezember 2020
Illustration: Schätti und Lehmann
Schweizer und japanische Architekt*innen begegnen einander mit grossem Interesse und viel Wertschätzung. An einem Online-Event tauschten sich vergangenen Samstag zehn Expert*innen aus beiden Ländern stellvertretend aus.
Die Japan Swiss Architectural Association (JSAA) ist eine kleine, aber sehr umtriebige Institution, um welche die Schweiz von Architekt*innen aus anderen Ländern beneidet wird. Die Schweiz ist derzeit – neben Frankreich – das Land, in dem japanische Architekturschaffende am erfolgreichsten sind. Das Interesse in Nippon an der Schweizer Architektursezene ist ebenso gross und echt. Bereichernd ist der Architekturdiskurs über Kontinente hinweg in Zeiten des globalen Reisestillstands ganz besonders.
Die JSAA lud darum gemeinsam mit dem Architekturforum Zürich und dem Architekturrat der Schweiz am vergangenen Samstag, dem 12. Dezember 2020, zehn Expert*innen aus beiden Ländern ein, ihre Ideen und Projekte vorzustellen. Mit derlei binationalem Speed-Dating unter Entwerfer*innen und Professor*innen kommt die JSAA ihrem Ziel näher, den Austausch von «kulturellen Qualitäten und Technologien in der zeitgenössischen Architektur» zu stimulieren. Die Neuigkeiten aus Suisu, wie die Schweiz auf Japanisch genannt wird, mussten für dieses Mal online kommuniziert werden.
Das Architekturgespräch spannte einen weiten Bogen von der digitalen Technologie bis hin zur regionalen Architektur. Auf japanischer Seite umfasste das Aufgebot an Sprecher*innen drei Akademiker, eine junge Architektin und eine Redakteurin der Architekturzeitschrift a+u. Die Schweizer Architektur wurde von zwei Architekten, einem Museumsdirektor, einem Redakteur und einem Holzbau-Experten mit aussergewöhnlichem Architekturverstand repräsentiert.
Yusuke Obuchi forscht in Tokio an der Raumwahrnehmung nach akustischen Signalen. (Foto © Universität Tokio)
Die drei Wissenschaftler aus Japan, Takahiko Higuchi, Manabu Chiba und Yusuke Obuchi, zeigten die beiden Enden besagten Bogens auf, den die Veranstaltung spannte: Obuchi, der als «Auge des Orkans der digitalen Entwurfsszene in Japan» vorgestellt wurde, beschäftigt sich damit, wie die Arbeit auf der Baustelle «spassiger» und spielerischer werden kann. Durch die Vorfertigung sei die Tätigkeit der Bauarbeiter*innen im Vergleich zu früheren Jahrhunderten heute nämlich viel zu «mondän» geworden. Obuchi hat deshalb mit seinen Studierenden an der japanischen Eliteuniversität von Tokio ein System entwickelt, das digital prüft und erfasst, wie gut die Raumwahrnehmung durch Schallsignale bei verschiedenen Testpersonen funktioniert. Im Anschluss nutzt er dieses System dafür, mit einer Druckluft-Bazooka Kokosnuss-Faser-Bälle so auf einen Baldachin zu schiessen, dass ein stabiles Dach daraus entsteht. Seinen Student*innen macht es Spass!
Higuchi hingegen geht den umgekehrten Weg und interessiert sich – angeregt durch eine Begegnung mit Peter Zumthor an der USI in Mendrisio – für die vernakuläre Architektur Japans, die «durch Einflüsse aus den grossen Städten und aus dem Ausland» den Anschluss an ihre eigene Tradition schon lange verloren habe, wie er sagt. In zarten Bleistiftzeichnungen hält er diese untergehende «Architektur ohne Architekten» fest.
Chie Konno hat mit Rui Murabe das Büro teco gegründet. Die Bilder zeigen ihren Kindergarten «Deco Boho», der 2019 gebaut wurde. (Foto: Nao Takahashi)
Foto: Nao Takahashi
Foto: Nao Takahashi
Weit ab vom akademischen Elfenbeinturm bewegt sich die Arbeit von Chie Konno vom Büro teco, das sich mit kleinen und kleinsten Umbauprojekten besonders für Kinder, Alte und Behinderte beschäftigt. Die rapide alternde Gesellschaft in Japan und der ebenso schnell alternde Gebäudebestand machen ihre Arbeit besonders dringlich und wertvoll. Ausgehend von ihrer Auseinandersetzung mit dem Bautypus der Loggia entwirft sie – bestärkt durch ihren Professor Peter Märkli – semipermeable Räume um ihre Häuser herum, in denen Innen- und Aussenraum zusammenfinden wie in einer japanischen Engawa.
Einen ähnlich pragmatischen Zugang zum Bauen sucht Kerstin Müller vom baubüro in situ aus Basel. Müller arbeitet seit 2013 dort und ist seit diesem Jahr auch Co-Präsidentin des Vereins Cirkla Schweiz (ehemals Bauteilnetz), dem es darum geht, das Bauen mit recycelten Baustoffen und -teilen zu erleichtern. Die Definition eines «lokalen Baustoffs» möchte Müller auf in unmittelbarer Nähe erhältliche, bereits ein- oder mehrmals verbaute Teile ausweiten. Welche Geschichte hat ein Bauteil und wie kann man es für sein nächstes Leben ertüchtigen? Das sind die beiden entscheidenden Fragen, die sich Müller bei ihrer «Jagd» nach Wiederverwertbarem stellt. Ihr Ansatz ist auch ein Impuls für eine europäische Wabi-Sabi-Ästhetik, die im Imperfekten, Vergänglichen und Unfertigen ihren Quell hat. Um Abrisse von Altbauten flächendeckend unnötig zu machen, plädiert Müller für «kleine, aber effektive Eingriffe» in Gebäude, die den Lebenszyklus verdoppeln und verdreifachen.
Bauexperiment mit Strohballen bei in situ (Foto © baubüro in situ)
In Biel hat Shigeru Ban für die Firma Swatch gross gebaut. Das spektakuläre Projekt entstand mit Hilfe der Schweizer Firma Blumer-Lehmann. (Foto © Blumer-Lehmann AG)
Der Golfclub «Nine Bridges» in Südkorea von Shigeru Ban; auch hier war Blumer-Lehmann beteiligt. (Foto © Blumer-Lehmann AG)
Eine neue Ästhetik im Holzbau, dem derzeit weltweit die Herzen zufliegen, sieht Kai Strehlke von Blumer-Lehmann. In der Schweiz wie in Japan, aber vor allem auch in Südkorea haben die Holzbau-Avantgardisten aus Gossau mit Shigeru Ban Gebäude konstruiert und gestaltet, deren Fabrikation und Ausdruck völlig neue Massstäbe setzen. Beim Swatch-Neubau in Biel beispielsweise wurden die Möglichkeiten der Vorfertigung und des Rapid Prototypings eindrucksvoll demonstriert. Die geometrische Komplexität (etwa 4600 unterschiedlich geformte, doppelt gekrümmte Träger waren zu fertigen und wie ein 3D-Puzzle zu verbauen) ist dank einer fünfachsigen CNC-Fräse beherrschbar geworden und ermöglicht eine neue Holzbau-Gotik mit unregelmässigen Tonnengewölben und faszinierenden Baumstrukturen. «Holz als urbanes Baumaterial durchlebt heute eine Revolution wie Glas und Stahl vor hundert Jahren», resümierte Strehlke hoffnungsvoll.
Kazuo Shinohara, der seit den 1960er-Jahren die luzide und ephemere Architektur Japans analysiert und auch selbst als Entwerfer mit geformt hat, hat es dem Schweizer Architekturjournalisten und -dozenten Tibor Joanelly angetan. Speziell Shinoharas Haus an den Berghängen ob Nagano, das für den Dichter Shuntaro Tanikawa gebaut wurde, hat Joanelly zum Verfassen eines neuen Buches angeregt, das nun druckfrisch vorliegt. In «Shinoharistics: An Essay About a House» (Kommode-Verlag) beschreibt er «dieses architektonische Enigma von 1974» als nahezu unbenutzbaren Ort. Das Dach des Gebäudes überspannt lediglich das Terrain. Der Poet hielt es nicht lange in seinem Haus ohne Boden aus. Joanellys Text untersucht Shinoharas Lieblingsbegriffe «Naked Reality», «Maschine» und «Bedeutung», um daraus eine «Ontologie des architektonischen Raums» zu schaffen.
So gestochen drücken sich Journalist*innen wie Sylvia Chen aus Singapur nicht aus. Als Redakteurin bei der angesehenen Architekturzeitschrift a+u in Tokio hat sie die junge Schweizer Architektur in einer Ausgabe kenntnisreich porträtiert. Auf die Frage, ob sie schon ein weiteres Heft über Architektur in und aus der Schweiz plane, musste sie allerdings passen: Ihre Aufmerksamkeit ist bereits weitergewandert – sie richtet sich jetzt auf junge Architekt*innen in Mexiko.