In Pristina werden Geschichten neu erzählt

Susanna Koeberle
10. November 2022
Im Grand Hotel Pristina, das 1978 seine Tore öffnete, befand sich die Zentrale der Manifesta 14. Die Leuchtschrift ist eine Arbeit des Künstlers Petrit Halilaj. (Foto © Arton Krasniqi)

Gäbe es einen Wettbewerb dafür, dann würde Pristina locker den ersten Preis als hässlichste Hauptstadt gewinnen, meinte die kosovarische Journalistin Jeta Xharra an einem Panel, das sie im September anlässlich der Manifesta 14 moderierte. Und überdies sei Pristina eine der am stärksten verschmutzten Städte weltweit; der Grund dafür liegt unter anderem darin, dass noch mit Kohle geheizt wird. Doch irgendwie müsse die Hauptstadt des Kosovo das wieder wettmachen. Und das tue sie mit entsprechend grosser Freundlichkeit, so die Moderatorin. Als Novizin – ich war das erste Mal im Kosovo – muss man ihr in diesen Punkten recht geben. Wir trafen in Pristina ausschliesslich nette und hilfsbereite Menschen. Und wirklich schön ist die Stadt in der Tat nicht – das macht sie aber nicht minder interessant. Was die Verschmutzung betrifft, hat die Stadtverwaltung dank der Manifesta positiv auf einige problematische Orte einwirken können. Das Ziel der nomadischen Biennale war es, nicht nur künstlerische Visionen zu präsentieren, sondern auch urbane Strategien für die Stadt zu entwickeln und zu fördern.

Einer der 25 Austragungsorte der Manifesta 14, die vom Büro CRA Carlo Ratti Associati aus Turin in Zusammenarbeit mit dem MIT Senseable City Lab ausgewählt wurden, war die ehemalige Ziegelfabrik. Das Areal habe zu den absolut schmutzigsten Orten der Stadt gehört, an denen Leute alles entsorgten, das sie nicht in den Abfall werfen konnten, so Xharra. Die Manifesta versprach, solche Orte zu «transformieren». Es ist auffällig, wie oft in Texten oder an den verschiedenen Veranstaltungen, die wir besuchten, die Worte Revitalisierung oder Aktivierung fielen. Viele Bauten – darunter architektonische Meisterwerke wie die National Library of Kosovo von Andrija Mutnjaković aus dem Jahr 1982 – werden nicht mehr oder nur noch teilweise genutzt. Teil des Konzepts der Manifesta 14 war es, partizipatorische und kollektive Prozesse in Gang zu bringen, welche die Rolle des öffentlichen Raums in den Fokus rücken sollten. Die Wahl der 25 Orte gab Neubesucher*innen zudem einen Einblick in das architektonische Erbe der Stadt, das auch die Geschichte des Landes reflektiert.

Das deutsche Büro raumlaborberlin verwandelte in Zusammenarbeit mit verschiedenen Mitarbeitenden die ehemalige Ziegelei von Pristina in ein öffentlich begehbares Laboratorium. Auf diese Rolle verweist auch der Titel der Intervention «(Working on) Common Ground». (Foto © Manifesta 14 Pristina, Ivan Erofeev)

Weil Jeta Xharra als investigative Journalistin von Berufs wegen eine Skeptikerin ist, besuchte sie die verlassene Ziegelei vor und während der Manifesta 14 mit einem Kamerateam. Man habe den Ort nach der Eröffnung kaum wiedererkannt, so ihr Fazit. Bei unserem Besuch am letzten Wochenende der Biennale war in der «Brick Factory» (die Lingua franca der Manifesta ist Englisch) tatsächlich keine Spur von Abfallbergen zu sehen, auch wenn man dem Terrain seine frühere Verwahrlosung ansah. Das deutsche Büro raumlaborberlin hat den Ort verwandelt. Das kuratierte Chaos mit einigen für das Büro charakteristischen Interventionen erlaubte es, eine Vorstellung davon zu bekommen, was aus dem Ort werden könnte. Im Raum steht etwa eine Nutzung als Museum für zeitgenössische Kunst.

An einem Symposium, das wir besuchten, wurde genau dieses Thema diskutiert. Auf dem Podium sass (wie auf dem eingangs erwähnten Panel übrigens auch) unter anderem Përparim Rama, seit Dezember letzten Jahres Bürgermeister von Pristina. Rama wurde ebendort geboren und floh 1992 im Alter von 16 Jahren während des Jugoslawienkrieges nach London, wo er Architektur studierte. Als frisch gewählter Bürgermeister schon Gastgeber einer international angesehen Veranstaltung wie der Manifesta zu sein, ist definitiv ein Glücksfall; zumal Pristina ja sonst keine touristische Destination ist, höchstens von Kosovar*innen aus der Diaspora wird die Stadt besucht. Diese Ausgeflogenen schicken den Verwandten in der Heimat regelmässig Geld. Denn die Arbeitslosenquote ist hoch, die Hälfte der Jugendlichen findet keine Arbeit. 

Diese Zahlen geben interessante Hinweise, was die Bevölkerung des Kosovo betrifft: Über die Hälfte der Bewohner*innen des Landes sind unter 25 Jahre alt. Ein Drittel der kosovarischen Staatsbürger*innen lebt im Ausland, und die Hälfte der Menschen, die im Kosovo leben, möchte das Land verlassen. Das ist allerdings nicht so einfach, denn Kosovo ist das einzige Balkanland, in dem die Bürger*innen ein Visum brauchen, um in den Schengen-Raum auszureisen. Das hängt damit zusammen, dass die Republik Kosovo seit ihrer Unabhängigkeitserklärung im Jahr 2008 nicht von allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen akzeptiert wird – von Serbien schon gar nicht. Faktisch bedeuten dies, dass keine Reisefreiheit existiert. Das isoliert das Land vom Rest Europas und trifft auch die kreative Szene hart.

Der «Green Corridor» entlang stillgelegter Gleise verband die «Brick Factory» mit dem Stadtzentrum. Die gelbe Möblierung vom Architekturbüro Carlo Ratti Associati, die auch für Bepflanzung genutzt wurde, war jedoch keine wirklich originelle Intervention. (Foto © Manifesta 14 Pristina, Ivan Erofeev)
In einer Wohnung war eine Installation der Künstlerin und Aktivistin Alicja Rogalska zu sehen. Auch die finanzielle Abhängigkeit wurde thematisiert; nur rund 19 Prozent der Frauen im Kosovo sind erwerbstätig. (Foto © Manifesta 14 Pristina, Ivan Erofeev)

Pristina hat eine vibrierende Kunstszene, das zeigt auch schon nur die Tatsache, dass 39 Prozent der 130 geladenen Künstler*innen aus dem Kosovo stammen – einige von ihnen leben allerdings in der Diaspora oder geben zwei Wohnorte an. 64 Prozent der Manifesta-14-Künstler*innen kommen übrigens aus dem Westbalkan. Dementsprechend trifft man auf viele Namen, die in der Schweiz kaum bekannt sind. Der Sprung auf den internationalen Kunstmarkt ist schwierig, gerade angesichts des fehlenden Austausches. Der Wunsch, sich mit der Aussenwelt zu verbinden, war bei unserem Besuch überall zu spüren. 

Eine junge lokale «Mediatorin» erzählte uns in einer der 25 Manifesta-Örtlichkeiten, einer privaten Wohnung in einem relativ neuen Gebäude etwas ausserhalb des Zentrums, dass Kunst zu studieren gerade für Frauen nicht selbstverständlich sei. Denn nach wie vor herrschen im Land rigide Rollenmuster. Mit ihrer Rauminstallation «Sister Flats», die im Dialog mit lokalen feministischen Aktivistinnen entstand, thematisiert die Künstlerin und Aktivistin Alicja Rogalska die Unterdrückung der Frauen. Sie schlägt Schwesternschaft als Basis vor, um neue gesellschaftliche Modelle zu imaginieren. Jeweils am Montag, wenn die Ausstellungen geschlossen waren, wurde in der Wohnung ein kostenloser rechtlicher Beratungsdienst für einheimische Frauen angeboten. Dieser wurde während der gesamten Dauer der Manifesta 14 allerdings nur dreimal in Anspruch genommen. Das zeigt, dass das Problem sehr tief liegt. Die Hürden, tradierte Muster zu überwinden, sind hoch.

Das ehemalige Warenhaus Germia, ein Entwurf der Architektin Lilijana Rasevski, wird als möglicher Standort für ein Museum gehandelt. Die Arbeit auf dem Gebäude stammt von Alban Muja. (Foto © Manifesta 14 Pristina, Ivan Erofeev)

Diesbezüglich habe die Manifesta immerhin zu zeigen vermocht, dass Kunst eben kein Gespinst sei, sondern ein ernst zu nehmender Beruf, so die junge Frau. Die 100-tägige Veranstaltung habe zur Akzeptanz von Kunst beigetragen, glaubt sie. Ob diese auch dazu führen kann, ein Museum einzurichten, wird sich erweisen. Die Diskussionen dazu werden lebhaft geführt, das zeigte sich auch beim erwähnten Symposium. Eine Veranstaltung wie die Manifesta kann zwar als Katalysator für solche Prozesse wirken, doch die konkreten Umsetzungen müssen im Dialog mit den lokalen Protagonist*innen erarbeitet werden. Eine Stiftung der Manifesta hat sich dazu verpflichtet, diese Prozesse weiterhin unterstützend zu begleiten. Denn die Initiator*innen sind davon überzeugt, dass Kunst und Kultur einen wichtigen Beitrag zu sozialen, ökonomischen und urbanen Veränderungen leisten können, gerade weil sich das Land in einer wichtigen Transitionsphase befindet.

Die Installation «not a word (...)» von Ugo Rondinone unternahm eine Relektüre eines bestehenden Monuments. (Foto © Manifesta 14 Pristina, Ivan Erofeev)

Das Ende des Krieges ist erst 23 Jahre her. Die Wunden sind noch überall spürbar: Der Kosovo ist ein Post-Konflikt-Staat. Das widerspiegelt sich auch in den künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Region. Zu den ausländischen Künstler*innen, die sich damit befasst haben, gehört der Schweizer Künstler Ugo Rondinone. Er hat am beliebten Adem-Jashari-Platz – benannt nach dem kosovarisch-albanischen Kommandanten – ein graues Monument in eine rosa schimmernde Folie gepackt. Diese minimale Intervention schafft eine Relektüre des für «Bruderschaft und Einheit» stehenden Monuments, das 1961 während der Herrschaft Titos zu Ehren des Kampfs der Partisanen im Zweiten Weltkrieg erstellt wurde. Rondinone hinterfragt mit einer simplen Geste den Status von Monumenten an sich und regt dazu an, über die problematischen Erzählungen von Heldentum nachzudenken. 

Diese Arbeit von Mette Sterre befand sich in einem Stockwerk des Grand Hotel Pristina, in dem mehrere Werke unter dem Motto «on speculation» versammelt waren. Das Thema Science-Fiction wird auch in Ursula K. Le Guins Aufsatz «Die Tragetaschentheorie der Fiktion» behandelt, der ebenfalls in dem Hotel präsentiert wurde. (Foto © Manifesta 14 Pristina, Majlinda Hoxha)

Um solche neuen Erzählungen geht es auch der Manifesta-14-Kuratorin Catherine Nichols, was sie durch den Titel ihres künstlerischen Programms «it matters what worlds world worlds: how to tell stories otherwise» unterstreicht. Man traf vor allem im Herzstück der Manifesta 14, dem Grand Hotel Pristina, auf die literarische und philosophische Inspiration für die Ideenwelt Nichols’ und der von ihr eingeladenen Künstler*innen. Dazu gehört Donna Haraways «Staying with the Trouble» (Unruhig bleiben), das auf die Wichtigkeit der Art und Weise von Erzählungen hinweist. Haraway plädiert für eine «spekulative Fabulation», womit die Philosophin Erzählweisen meint, die «Fadenspiele» ermöglichen, also heilsame Formen des Weitererzählens und Mit-Werdens als Alternative zu den zerstörerischen Auswüchsen des Anthropozäns. 

In einem der sieben mit Kunst bestückten Stockwerke des Hotels lag eine Kopie von Ursula K. Le Guins Aufsatz «Die Tragetaschentheorie der Fiktion» auf, in der die Autorin zeigt, wie stark unsere Gesellschaft durch Heldengeschichten – und damit durch eine Analogie von Waffe und Wort – geprägt ist. Für sie liegt der Ursprung von Kultur aber in der Geste des Sammelns: Also müsste nicht der phallische Stab (oder die Waffe) am Anfang von Geschichten stehen, sondern die Tasche. 

Auch «frosted pocked» von Sislej Xhafa befasst sich mit dem problematischen Erbe des Ortes. Der kosovarische Künstler ist hierzulande kein Unbekannter; eine seiner Arbeiten im öffentlichen Raum steht im Zürcher Hardaupark. Er war am Abschlusswochenende der Manifesta auch in Pristina. (Foto © Manifesta 14 Pristina, Ivan Erofeev)

Le Guins Tragetaschen-Narrativ sucht nach einer Geschichte des Lebendigen, die sich auch in vielen Kunstwerken der Manifesta 14 verdichtet. Die verschiedenen Arbeiten der 103 Kunstschaffenden stehen in mehrfacher Hinsicht für eine neue und dringend notwendige Sicht auf unsere Welt. Genau dieser Perspektivenwechsel machte den Besuch der Manifesta 14 zu einer bereichernden Erfahrung.

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