Schulzentrum Marcelin
Text: Robert Walker
Fotos: Thomas Jantscher
In Marcelin, oberhalb von Morges, bauten die Neuenburger Architekten Geninasca und Delefortrie ein neues Gymnasium und eine Berufsschule. Mit ihrer strengen Geometrie und der Hofform macht die Anlage eine klare Absage an den Siedlungswildwuchs entlang des Genfersees.
In Sichtweite von Schloss Vufflens errichtete der Kanton Waadt um 1910 die Landwirtschaftliche Schule am Fuss der Rebberge. Die Gebäude auf der Geländeterrasse gruppieren sich um einen Hof. Diesen prominenten Ort wählte der Kanton 1995 wieder für ein neues regionales Schulzentrum. Ein Gymnasium und die Baugewerbe-Berufsschule für je 800 Schüler sollten die Landwirtschaftliche Schule ergänzen. Den zweistufigen Wettbewerb gewannen Geninasca und Delefortrie Architekten 1996. In der Hof-Typologie der Landwirtschaftlichen Schule und im Kontrast, den sie zur Landschaft aufbaut, sahen sie das Wesen der bestehenden Anlage. Deshalb reagierten die Architekten mit ihrem Neubau ebenso auf den Ort.
Aus der Geländeterrasse wurde ein hölzernes Deck mit zwei eingeschnittenen Höfen. Der <Kreuzgang> dient als Erschliessung.
Der lange Riegel der Berufsschule festigt die Terrassenkante gegen
Süden. Die Landschaft reicht direkt bis an die Fassade heran. Auf der
Westseite begrenzt das Gymnasium die Anlage. Der Bau ist grossflächig
und fassadenbündig verglast – die Spiegelung und die schmalen
Lüftungsklappen signalisieren Abwehr. Auch hier wächst das Gras bis an
den Sockel. Die neue Turnhalle bildet den Abschluss des hofartigen
Ensembles auf der Nordseite. Von weitem erscheint die Schulanlage wie
eine Burg in der Landschaft. Im Hof verbindet eine künstliche
Plattform, ein weites Holzdeck über dem Untergeschoss, die drei
Neubauten miteinander. Zwei kleinere Höfe sind darin eingeschnitten.
Sie bringen Licht in die gemeinschaftlich genutzten Räume wie die
Bibliothek, Informatik- und Musikräume unter dem Deck. Ein überdachter
Weg entlang der Innenfassade der Gebäude führt rund um das Holzdeck.
Die regelmässige Stützenreihe, die den Weg säumt, erinnert an einen
Kreuzgang – das Schulzentrum ist mehr Kloster als Burg.
Durch das Zusammenlegen der Bibliothek, Musik- und Informatikzimmer
unter dem Innenhof konnten die Architekten die Schultrakte schlanker
und niedriger gestalten. Mit diesem Trick haben sie den Wettbewerb
gewonnen. Unterirdische Räume heisst aber auch, ein
Erschliessungssystem entwickeln, das kein Maulwurfsgefühl aufkommen
lässt. Deshalb ziehen Geninasca Delefortrie die Lichthöfe des
Gymnasiums und der Berufsschule bis ins Untergeschoss. Damit sind eine
einfachere Orientierung und auch eine natürliche Belichtung der meisten
Räume im Untergeschoss gewährleistet. Verschiedene Ausblicke in die
Höfe sowie Rampen in den breiten Gängen machen das unterirdische
Wegsystem zur <Promenade architecturale>.
Die Höfe selbst sind nur zum Anschauen und Geniessen da. Sie sind das
Kunst-am-Bau-Projekt des Lausanner Künstlers Daniel Schlaepfer. Im
grösseren wachsen Birken aus bruchrohen Gneisplatten. Spezialgläser
stossen aus dem Boden und brechen die Sonnenstrahlen in farbiges Licht.
Der Hof bekam den Namen <Bois du silence>. Auch der kleine Hof
ist mit Gneis ausgelegt. Darunter liegt eine Zisterne. Ist sie voll,
bedeckt der Wasserspiegel teilweise die Steine. <Bassin du
murmure> heisst dieser Garten. Die beiden Höfe erinnern an
japanische Gärten. Die Bibliothek liegt dazwischen. Die langen,
hölzernen Lesetische mit den Tischlampen und Sitzgruppen mit Sesseln
von Alvar Aalto prägen die intime Arbeitsatmosphäre mit Blick in den
<Wald der Stille> und ins <Becken des Gemurmels>.
Plastische Architektur
Taucht man aus dieser höhlenartigen Unterwelt wieder auf, wird die
Architektur zunehmend plastisch. In den Lichthöfen des Gymnasiums und
der Berufsschule begrenzen massive Brüstungen die Galerien. Die
Tragstruktur sind keine dünnen Stützen, sondern breite Betonscheiben,
die dem Raum seinen Rhythmus geben. Details fehlen gänzlich: Weder
Geländer, Fussleisten oder hängende Lampen stören die körperhafte
Erscheinung der Räume. Auch die Sitzgelegenheiten auf dem hölzernen
Deck erscheinen wie Ausstülpungen der Fläche – sie sind mit dem
gleichen Holz verkleidet wie der Boden. Besonders skulptural ist die
Berufsschule gestaltet, die die Geländekante markiert. Kleine
Pausenterrassen sind aus dem massiven Riegel herausgeschnitten, ein
länglicher Einschnitt am Sockel und eine negative Ecke machen das
kantige Volumen zur Plastik. Die grossen, sprossenlosen Fenster des
Baus täuschen die Wahrnehmung: Das Gebäude erscheint kürzer als 130
Meter. Die Fassaden des Gymnasiums hingegen sind spiegelglatt. Die
offenen Lüftungsflügel zwischen den raumhohen Festverglasungen setzen
plastische Akzente.
Die Berufsschule ist in einem sehr dunklen, fast schwarzen Nachtblau
gestrichen. Dadurch soll das Gebäude kleiner wirken, so die
Architekten. Die Farbwahl verstärkt den abstrakten und plastischen
Charakter. Durch die ockerroten Leibungen der Fenster der Berufsschule
wirken die Öffnungen wie aus dem Volumen herausgeschnitten. Dunkle
Farbe haben die Architekten auch für die Storenkästen und für die
geschosshohen Lüftungsklappen des Gymnasiums gewählt. Auch in den
Innenräumen ist die Farbe das verbindende Element. Die Korridore sind
in beiden Häusern hellblau, die Innenflächen der Treppenhäuser orange
gestrichen. Für die Bibliothek und die Cafeteria wählten Geninasca und
Delefortrie ein dunkles, metallisches Grau. Die Räume wirken sehr
dezent. Und trotz der dumpfen Oberflächen wird das Licht da und dort
reflektiert.
Luftraum Cafeteria 1, Berufsschule 2, Gymnasium 3, Dach der neuen Turnhalle 4, bestehende Turnhalle 5
Bibliothek 1, Musikzimmer 2, Informatikzimmer 3, Dreifach-Turnhalle 4, Hof mit <Bois du silence> 5, Hof mit <Bassin du murmure> 6
Zitatenreich
Der Bau ist reich an Verweisen. Die schwarzen,
hölzernen Stabgitterwände zwischen Halle und Gang der Turnhalle, werden
weniger als Sportgerät wahrgenommen, sondern eher als klösterlicher
Raumteiler. Auch das Gangsystem unter dem Holzdeck weist eine
typologische Verwandtschaft mit dem Kloster La Tourette von Le
Corbusier auf. Die beiden versenkten Innenhöfe hingegen verströmen eine
ja-panische Atmosphäre. In Kombination mit dem Holzdeck erinnern sie an
die Nationalbibliothek von Dominique Perrault in Paris. Auch hier
gruppieren sich Lesesäle unter einem Holzdeck rund um einen versenkten
Garten. Die vielen Anspielungen geben der Anlage von Geninasca und
Delefortrie eine zusätzliche Dimension. Die Architektur bietet nicht
nur ein räumliches Erlebnis, sondern ist auch eine architektonische
Verweislandschaft.
Schulzentrum Marcelin
1996–2003
Morges
Bauherrschaft
Kanton Waadt
Département des
infrastructures
Service des bâtiments
Architektur und
Ausführung
Geninasca-Delefortrie
Neuchâtel
mit Tekhne Management
Lausanne
Projektleiter
Ph. Von Bergen
M. Egger
Mitarbeiter
P. Bernasconi
J.-M. Deicher
T. Henking
V. Matthey
E. Ott
L. De Stafano
Kunst am Bau
Daniel Schlaepfer
Lausanne
Bauvolumen
183 800 m3
Baukosten
(BKP 1–9)
CHF 93,5 Mio
Gebäudekosten
(BKP 2/m3)
CHF 420.–
Geninasca Delefortrie
Laurent Geninasca, geboren 1958, studierte an der ETH Zürich Architektur und arbeitete nach einem Praktikum bei Luigi Snozzi im Büro Monnier in Neuchâtel. Bernard Delefortrie ist 1959 geboren und stammt aus Belgien. Er studierte in Brüssel, arbeitete für kurze Zeit in Marokko und kam schliesslich zu Claude Rollier nach Neuchâtel. Beim Wettbewerb für das neue Spital Pourtalès in Neuchâtel erhielt Monnier mit Geninasca und Schmid den ersten Rang, Rollier mit Delefortrie den zweiten Rang. Der Wettbewerb brachte die beiden zusammen und 1995 gründeten sie ein Büro in Neuchâtel. Heute beschäftigen sie 20 Mitarbeiter. Nebst Umbauten realisierten Geninasca und Delefortrie die Primarschule mit Turnhalle Acacias (mit Monnier) in Neuchâtel (HP 10/99), das neue Dach vor dem Bahnhof Neuchâtel, eine Passerelle über die Areuse (HP 6-7/03) oder ein Mehrfamilienhaus in Peseux.
www.gd-archi.ch