Wertschätzend umgekrempelt

atelier 4036
29. August 2024
Blick von der Dorfstrasse auf das Bauernhaus: Im Vordergrund ist der ehemalige Wohnteil zu sehen, hinten der umgebaute Nutztrakt mit Obstgarten. (Foto: atelier 4036)
Frau Sander, Frau Germann, Herr Martin, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Romana Sander: In erster Linie lag die Herausforderung für uns im Umgang mit dem historischen Bestand und seiner knapp 200-jährigen Geschichte. Das Bauernhaus mit Wohnhaus, Stall und Tenn befindet sich mitten im Ortskern von Oberbipp. Dieser ist inventarisiert als eines der besterhaltenen ländlichen Ortsbilder am Jurasüdfuss. Die Atmosphäre ist geprägt von grünen Vorgärten und Bauernhäusern mit Bruchsteinmauerwerk und oft filigranen Holzkonstruktionen.

Unsere Aufgabe war es, den Bestand an ein neues Nutzungskonzept als reiner Wohnbau und an die energetischen Bedürfnisse der neuen Nutzerschaft anzupassen, ohne dabei dessen Charme und Charakter zu verlieren. Im Austausch mit der Denkmalpflege des Kantons Bern wurde die vor kürzerer Zeit in den ehemaligen Nutztrakten teils stark veränderte Substanz analysiert und anschliessend auf die ursprüngliche strukturelle Logik rückgebaut. Speziell am Projekt ist, dass die neue Wohnnutzung nicht im ehemaligen Wohnhaus, sondern innerhalb der Nutztrakte realisiert wurde, was einerseits auf die ungünstige Orientierung des ehemaligen Wohntrakts gegen Norden und zur Strasse zurückzuführen ist. Andererseits boten das überhohe Tenn und die hallenartige Struktur des Stalls aber auch mehr Spielraum für die Gestaltungswünsche der Bauherrschaft.

Auf der Gartenseite besitzt das Bauernhaus nunmehr eine Laube und einen Brunnen mit Pflasterstein-Rinne, über die das Dach entwässert wird. (Foto: atelier 4036)
Die ehemalige Erschliessungsachse des Stalls dient auch heute als solche und verbindet den Vorgarten mit dem strassenseitigen Haupteingang. Einbauschränke aus durchgefärbten MDF-Platten bilden die Garderobe. (Foto: atelier 4036)
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


Romana Sander: Der Bestand selbst und die unmittelbare Umgebung haben stark auf den Entwurf eingewirkt. Vieles war gegeben oder konnte nach historischen Vorbildern erneuert werden. Die Details wurden vorwiegend aus dem Repertoire der Bauweise aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgeleitet und wo nötig so einfach wie möglich interpretiert. Inspirierend war auch die Geschichte der Nutzbauten mit ihrer funktionalen Vergangenheit. So haben wir beispielsweise die typischen funktionalen Verbindungsachsen des Stalls zwischen den beiden Traufseiten oder jene zwischen Stall und Tenn in den Neubau integriert und dadurch Sichtbezüge zum Garten geschaffen.

Die neuen Wohnräume im vormals geschlossenen Tenn überzeugen mit vielfältigen Sichtbezügen zum Garten. (Foto: atelier 4036)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


Aurel Martin: Der Ort am Rande des Juragebirges strahlt eine direkte Einfachheit, Gelassenheit und Zeitlosigkeit aus. Ich denke, das sind Begriffe, die uns über alle Phasen begleitet haben. Im überhohen Tenn wurde die geschlossene Westfassade mit verschiebbaren Lamellen zum Garten grosszügig geöffnet. So ist ein Sichtbezug von der Essküche über das Wohnzimmer hinaus in den idyllischen Obstgarten ermöglicht. Im Aussenraum haben wir eine sorgfältige Einbindung ins Dorfbild angestrebt, mit wenig versiegelten Flächen und einer oberflächlichen Regenwasserversickerung über eine Pflasterstein-Rinne aus Jurakalkstein.

Blick aus dem filigranen Unterstand auf das Bauernhaus (Foto: atelier 4036)
Gab es bedeutende Projektänderungen vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk?


Romana Sander: Um einschneidenden Projektänderungen vorzubeugen, haben wir in einer intensiven Planungsphase verschiedene Nutzungsszenarien für eine Gesamtsanierung durchgespielt, bis wir zur heutigen Lösung mit einer Wohneinheit im Stall und dem ehemaligen Wohnhaus als Raum für Zwischennutzungen kamen. Diese Strategie erlaubt auch künftig eine flexible Anpassung und einen weiteren Ausbau der Liegenschaft. 

Weil viele Bauteile innerhalb des Bestands nur schlecht zugänglich waren, war die Planungsunsicherheit anfangs trotzdem hoch und vieles konnte erst während der Ausführung abschliessend definiert werden. So kam während der Abbrucharbeiten ein zugemauertes Fenster zum Vorschein, das mitsamt seinen historischen Natursteinlaibungen freigelegt werden konnte. Auch war es trotz einer Konstruktion als Holzständerbau mit Brettschichtholzdecken aufgrund der kleinteiligen bestehenden Öffnungen kaum möglich, Teile vorzufabrizieren. Das lokale Holzbauunternehmen hat daher eine Werkstatt innerhalb des Gebäudes errichtet und laufend vor Ort die Bauteile massgenau eingepasst. Das war der Grundstein für die benötigte Flexibilität bis in die Ausführungsphase. Insgesamt ist das Projekt bis zuletzt stark von der Offenheit, Kompromissbereitschaft und Flexibilität aller Beteiligten geprägt worden.

Die neue Zimmerstruktur im Obergeschoss nimmt mit ihrer einfachen und rohen Materialität Bezug auf die frühere Nutzung der Räume als Stall. (Foto: atelier 4036)
Zwischen den historischen und neuen Aussenwänden liegt eine raumhaltige Schicht. (Foto: atelier 4036)
Blick aus dem Bad auf die begehbare Zwischenschicht. Die Materialität ist natürlich und zurückhaltend gewählt. (Foto: atelier 4036)
Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten Ihres Büros ein?


Bettina Germann: Der Einsatz möglichst natürlicher, roher Materialien sowie die Suche nach einer konstruktiven Direktheit stehen oft im Zentrum unserer Entwürfe. So auch in Oberbipp, wo das bestehende Bruchsteinmauerwerk wieder freigelegt und instand gesetzt wurde und nun zusammen mit dem rohen Unterlagsboden und dem unbehandelten Holz die Raumatmosphäre prägt. Die bestehenden Elemente der traditionellen Holzbauweise wie die Balken, Stützen oder das aus dem frühen 19. Jahrhundert stammende Tenntor wurden soweit möglich erhalten und mit dem neuen Holzbau ergänzt. Auch die strukturellen, laubenartigen Aussenräume, die eine gedeckte Verbindung zwischen Garten und Innenraum schaffen, findet sich in anderen Projekten von uns wieder.

Für die konstruktiven Bauteile kam Holz zum Einsatz. Alle Schreinerarbeiten wurden mit durchgefärbten MDF-Platten ausgeführt, was hier am Treppengeländer ersichtlich ist. (Foto: atelier 4036)
Ein detailliertes Strukturmodell half den Architekt*innen, die statische Logik des Gebäudes zu verstehen. (Foto: atelier 4036)
Situation (© atelier 4036)
Grundriss Erdgeschoss (© atelier 4036)
Schnitt (© atelier 4036)
Bauwerk
Umbau und Sanierung eines Bauernhaus in Oberbipp
 
Standort
Weihergasse 3, 4538 Oberbipp
 
Nutzung
Wohnhaus
 
Auftragsart
Direktauftrag
 
Bauherrschaft
Privat
 
Architektur
atelier 4036 GmbH, Zürich
Romana Sander (Projektleiterin), Aurel Martin, Bettina Germann und Vaclav Protiva
 
Fachplaner
Bau- und Holzbauingenieur: Baukonstrukt AG, Biel
Bauphysik: Walther Bauphysik AG, Biel
 
Bauleitung
Bau-Weise.ch AG, Oberbipp
 
Fertigstellung
2024
 
Massgeblich beteiligte Unternehmer
Holzbau: Juraholzbau AG, Zuchwil
 
Fotos
atelier 4036 GmbH

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