Das Reinhard Ernst Museum für abstrakte Kunst mre in Wiesbaden

Feuerwerk im Zuckerwürfel

Falk Jaeger
20. de juny 2024
Im Innenhof steht die Skulptur «Buscando la luz III» von Eduardo Chillida (Foto: Helbig Marburger © Reinhard & Sonja Ernst-Stiftung, Museum Reinhard Ernst)

Über die Schlagzeilen der örtlichen Presse ist der Neubau des Museums Reinhard Ernst noch kaum hinausgekommen, was wohl am geräuschlosen Entstehungsprozess gelegen hat. Dabei hat er als Ort der Kunstpräsentation und -vermittlung wie auch als architektonische Preziose Qualitäten zu bieten, die den Bau mit der Eröffnung wohl national und international ins Blickfeld rücken werden. 

Der Limburger Unternehmer Reinhard Ernst hatte zwei von ihm entwickelte Firmen, die Spezialantriebe für Robotik und Mobilitätslösungen produzieren, an japanische Teilhaber veräussert und gemeinsam mit seiner Frau eine Stiftung gegründet. Um die Jahrtausendwende machte er sich Gedanken, wie er seine seit den 1980er-Jahren parallel dazu aufgebaute stattliche Kunstsammlung der Öffentlichkeit präsentieren könnte, durch Schenkung an ein Museum zum Beispiel. Die Sammlung Reinhard Ernst ist Europas bedeutendste Privatkollektion abstrakter Kunst und umfasst mehr als 900 Arbeiten aus Europa, den USA und Japan aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute.

Blick aus dem zweiten Obergeschoss ins Foyer (Foto: Helbig Marburger © Reinhard & Sonja Ernst-Stiftung, Museum Reinhard Ernst)

Die Furcht aller Stifter, dass ihre Privatsammlung dann bis auf wenige herausgepickte Highlights im Depot verschwindet, bewog ihn, ein eigenes Museum zu bauen. Ernst hatte mit Fumihiko Maki im japanischen Natori die Begegnungsstätte «Haus der Hoffnung», ein Sozialprojekt für Tsunami-Opfer, realisiert und beauftragte ihn mit dem Entwurf für ein Museum zunächst an seinem Sitz in Limburg. Doch die dortigen Stadtväter hatten abgewinkt. Sie werden sich heute grämen.

Ernsts neuer Wohnort Wiesbaden nahm das Angebot an und stellte das Filetgrundstück Wilhelmstrasse 1 im Zentrum des Kurviertels in Erbpacht zur Verfügung. Über die gemeinnützige Reinhard & Sonja Ernst Stiftung, die im Immobiliensektor agiert und soziale und kulturelle Projekte betreibt, investierte Reinhard Ernst 70 Millionen Euro in den Neubau. Zudem garantiert er den dauerhaften Betrieb des Museums.

Der leider Anfang des Monats verstorbene Fumihiko Maki schlägt mit seiner Architektur die Brücke von der japanischen Moderne, der narrative, figurative Elemente fremd sind, die diszipliniert statt verspielt, empfindsam statt vorlaut ist, zum Rationalismus und Utilitarismus Amerikas, wo er lange gelehrt und gearbeitet hat. Sein Museum in Wiesbaden ist Ausdruck dieser sensitiven, teilweise artifiziellen Moderne, die aller postmodernen Formalismen bar von der Gestaltung des Lichts, von Transparenz, von delikater Detaillierung Mies’scher Perfektion und von der Wirkung sorgsam ausgewählter Materialien lebt. Wie auch eine Werkschau, die zurzeit in den Wechselausstellungsräumen des Museums zu sehen ist, zeigt, ist die extravagante Grossform von «Signature Buildings» Makis Sache nicht. Die Kubatur des mre reiht sich in die Bauflucht des Boulevards ein und reflektiert die Bauhöhe der Nachbarn. Die breite Front ist optisch in zwei hochrechteckige «Häuser» geteilt.

Grundriss Erdgeschoss (© Maki and Associates)
Grundriss 1. Obergeschoss (© Maki and Associates)
Grundriss 2. Obergeschoss (© Maki and Associates)

«Zuckerwürfel» nennen die Wiesbadener das mit samtig schimmerndem weissen Granit «Bethel White» aus New Hampshire in makelloser Sortierung verkleidete Haus. Präzise geschnitten, mit gestockter Oberfläche und kaum merklicher Fügung – die Silikonfugen wurden mit Steinmehl gepudert – wird die Anmutung dünner Steintapeten vermieden. Die Kanten zeigen keine Stossfuge, denn die Eckschalen sind aus dem vollen Stein geschnitten.

«Dieses Gebäude gehört der Kunst und die Kunst gehört allen» – das Zitat von Sonja und Reinhard Ernst an der Wand im Foyer ist Programm. Die Kunstvermittlung steht im Vordergrund. Das Haus wendet sich im Erdgeschoss voll verglast der Wilhelmstrasse zu und weckt die Neugier der Passanten. Vor allem das Café mit Freisitz, aber auch der Museumsshop und natürlich der dazwischenliegende Haupteingang – dieser etwas geschützt zurückgesetzt – laden als gebaute Willkommensgeste die Passanten niederschwellig ins Haus ein.

Im Foyer mit dem anschliessenden gläsernen Atrium bietet sich ein Rundblick, der den Besuchern Übersicht und Orientierung bis in die Obergeschosse ermöglicht. Zur Rechten folgt auf Shop und Empfang das experimentelle Farblabor für Jugendliche und der Eingang zum Maki-Forum. Mit seinen gestuft hinterleuchteten Seitenwänden und exquisiten Hängeleuchten ist der Veranstaltungssaal eine Augenweide und bietet 250 Besuchern Platz.

Schnitt A (© Maki and Associates)
Schnitt D (© Maki and Associates)

Makis präzise geschnittene Architektur ist klar, transparent, licht und hell. Diese luzide Baukunst profitiert ganz entscheidend von der exquisiten Qualität der Materialien, der Detailausbildung und der aussergewöhnlichen Perfektion der Bauausführung. Dafür steht der Bauherr Reinhard Ernst, dessen Lebensinhalt das präzise Konstruieren war und der die Bauarbeiten fast täglich mit Argusaugen kritisch überwacht und jede Entscheidung selbst getroffen hat.

Der Rundgang führt durch Räume unterschiedlicher Prägung und Grösse. Dazwischen gibt es helle Zonen, erholsame Ausblicke in die Stadt und ins Grüne, und immer wieder rings um das Atrium reizvolle Durchblicke, Himmelslicht, Wolkenzug. Kunstgenuss und Architekturerlebnis wechseln sich ab. In einer Ecke des Obergeschosses überrascht eine zweiteilige Monumentalskulptur von Tony Cragg, für die der Standort eigens geplant worden war. Ein Kran hatte das Objekt übers Dach gehievt. Gut gesichert und eingepackt, überstand das Kunstwerk die restliche Bauzeit. Auch der Standort für eine in den Innenhof gekrante tonnenschwere Grossplastik von Eduard Chillida musste für die Schwerlast eigens gegründet werden. Die Farbtöne sind gedeckt, die Räume weiss, die Fussböden wunderbar dunkles Holz oder Terrazzoflächen. Farben bringt die Kunst ins Spiel, und das nicht zu knapp. In jedem Saal erlebt der Besucher ein neues Feuerwerk. Wer erwartet hat, ein ganzes Museum abstrakter Kunst müsse langweilig sein, wird sehr überrascht sein.

Der Stifter hat kein akademisches Interesse, in thematischen Ausstellungen einzelne Strömungen, Künstler und deren Werdegang mit ganzen Werkgruppen kunsthistorisch korrekt dokumentieren zu wollen. Er sammelt nur, was ihm gefällt, Arbeiten mit «Wow-Effekt». Und so wird der Rundgang zum erfüllenden sinnlichen Erlebnis, führt von Höhepunkt zu Höhepunkt, ohne Durststrecken. Sicher gibt es bewusste thematische Zusammenstellungen korrespondierender Werke: «Farbe hoch drei» untersucht Farbräume mit Helen Frankenthaler, Sam Francis oder Morris Luis, «Gegen den Strich» vom kraftvollen Pinsel geprägte Bilder von Katharina Grosse, Inoue Yūichi oder Robert Motherwell. «From Zero to Action» ist ein Raum überschrieben, «Die Befreiung der Farbe» ein anderer. «The Beat Goes On» zeigt Werke von Esteban Vicente, Ernst Wilhelm Nay, Thomas Scheibitz oder Tal R, die bis in die 2000er-Jahre reichen. Ein Tageslichtraum ist Frank Stella für drei monumentale Metallreliefs seiner Moby-Dick-Serie (1989) vorbehalten.

Foto: Helbig Marburger © Reinhard & Sonja Ernst-Stiftung, Museum Reinhard Ernst
Foto: Helbig Marburger © Reinhard & Sonja Ernst-Stiftung, Museum Reinhard Ernst

Das Museum ist ein Musterbeispiel an Perfektion in jeder Hinsicht. Es hat die für einen Museumsbesuch angemessene Grösse, hohe Aufenthaltsqualität und für den Betrieb grosszügig bemessene Neben- und Funktionsräume. Wenngleich Ernst das Kostenmanagement fest im Griff hatte, mussten das Büro Maki und die Architekten der Ausführungsplanung schneider+schumacher nirgendwo an der Qualität sparen. Es gab keine Bürgerproteste, keine Bauskandale, keine Kritik der Nutzung und der Architektur gegenüber, keine missmutige Presse. Wie kein weiteres aktuelles Grossbauprojekt in Deutschland derzeit erfreut sich das mre allgemeiner Wertschätzung – auch weil sich Sonja und Reinhard Ernst der Förderung der Kunst verschrieben haben. Deshalb ist die Architektur darauf ausgelegt, Besucher und Passanten mit offenen Armen zu empfangen. Ein umfangreiches didaktisches Programm für Schulklassen und Jugendliche (die bis 18 Jahren freien Eintritt haben) soll speziell der Jugend Kunst vermitteln. Das Museum wird Anlaufpunkt für Kunstfreunde aus nah und fern sein, ist aber auch zum architektonischen und urbanen Aktivposten im Zentrum der Kurstadt geworden.

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