Siedlungsspuren in Sibirien
Manuel Pestalozzi
30. d’agost 2017
Spiegelungen beim 65. nördlichen Breitengrad. Die zylindrischen Behältnisse sind gelegentlich auch Behausungen mit ausgesägten Öffnungen. Bild: Manuel Pestalozzi
Eine Flussreise auf dem Ob durch Westsibirien stellt die Logik auf den Kopf und strapaziert das Fassungsvermögen. Die Erde erscheint als geschundener Gebrauchsgegenstand, der genius loci lauert in der unendlichen Weite.
Sibirien hat sich nie den Ruf eines begehrten Aufenthaltsorts erworben. Das riesige Territorium, das sich jenseits der Ural-Bergkette bis an die Pazifikküste des Fernen Ostens ausdehnt, ist nach wie vor ein Terrain vague – ein Gelände aus Tundra, Taiga, Sümpfen und Hügeln, heiss und mückenverseucht während der langen Sommertage, unerbittlich kalt und farblos und finster in den langen Winternächten. Menschen machen sich hier rar. Während des Zaren- wie des Sowjetreichs fanden Zwangsansiedlungen statt. Nachgebaute Gefängniszellen, erbärmliche Notunterkünfte und Original-Fussfesseln aus Eisenketten gehören wie selbstverständlich zum Ausstellungsgut der zahlreichen lokalen Volkskundemuseen, ebenso wie ausgestopfte Bären, indigener Krallenschmuck und Zobelfelle.
Wovon hier leben? Die verschiedenen Urvölker sind Nomaden; sie betreiben Rentierzucht, jagen, fischen, sammeln Beeren. Der Lebensstil in der kargen Landschaft beansprucht viel Territorium und lässt nur eine niedrige Besiedlungsdichte zu. Das gilt auch für grössere Tiere wie die erwähnten Bären. Touristen wird erzählt, es gebe heute zu viele von ihnen, sie seien geschützt und dürften nicht gejagt werden. Sie würden sich vor Hunger selbst auffressen. Trotz den eher lebensfeindlichen Bedingungen gibt es in Sibirien Eroberer: Das Zarenreich nahm das Gebiet den Nachfolgern des Mongolenherrschers Dschingis Khan ab. Kosakentuppen setzten dem tatarischen Khanat Sibir, von dem der Name Sibirien abstammt, im 16. Jahrhundert ein Ende und brachten in der Folge erstaunlich schnell die ganze riesige Landmasse östlich davon unter ihre Kontrolle. Seither bestimmt die russische Kultur, was Sache ist.
Mit dem Schlitten direkt vom gefrorenen Fluss in den Ostrog. Idealisierte Nachbildung des Stützpunkts Narym im Ortsmuseum der einstigen Stadt. Bild: Manuel Pestalozzi
Stützpunkte
Sesshafte, anspruchsvolle Lebensgemeinschaften stehen in Sibirien vor ernsthaften Problemen. Neben dem geringen landwirtschaftlichen Wert des Untergrunds ist da vor allem die erschwerte Mobilität zu nennen. Die grossen Flüsse Ob, Jenissei und Lena enden alle im Nördlichen Eismeer. In exakter Umkehr der metaphysischen Wasserweg-Exploration im Sinne der berühmten Novelle von Joseph Conrad, befindet sich in Sibirien das «Heart of Darkness» nicht am Oberlauf, sondern im Mündungsbereich nördlich des Polarkreises. Dies macht die in Süd-Nord-Richtung orientierten Flüsse als Verkehrsachsen weitgehend unbrauchbar. Grössere Siedlungsräume entstanden nur dort, wo Ost-West-Verbindungen bestehen, namentlich entlang der Transsibirischen Eisenbahn, die in den letzten Jahren der Zarenherrschaft von 1891 bis 1916 gebaut wurde. Fährt man wie der Verfasser auf dem Ob von Salechard in südöstlicher Richtung bis zur «Bahnhofsstadt» Nowosibirsk, führt der Weg über rund 3200 Kilometer stromaufwärts, aus der Einsamkeit und der Isolation zu einer leidlich pulsierenden Millionenstadt, den ersten Brücken und dem ersten Flusskraftwerk.
Trotz den erschwerten Mobilitätsbedingungen erfolgte eine Landnahme, die eine Kontrolle des Territoriums zuliess. Die Kosaken errichteten entlang des Ob und auch anderer Flüsse Stützpunkte, so genannte Ostroge. Dies sind von Palisaden umgebene Kleinsiedlungen mit einer Kirche und freistehenden Häusern, die alle in Blockbauweise als Massivholzbauten erstellt wurden. Die Siedlungsstützpunkte dienten dem Handel mit Pelzen, Holz und Fisch – und als Verbannungsort von Personen, die vom Regime in Sankt Petersburg und später Moskau als Gefahr betrachtet wurden. Die Häuser im Palisadenring besassen häufig ein umzäuntes Gartengrundstück. Die Typologie des freistehenden, von einem Garten, einem Hof und einem Zaun umgebenen Anwesens hat sich bis in die Gegenwart hinübergerettet, die Blockbauweise ist der traditionelle Baustil Sibiriens, der durch gestrichene Fenstereinfassungen oder auch Traufbretter mit «Laubsäge»-Verzierungen veredelt wird.
Gehsteig aus Holzplanken, Gartenzaun und Fenstereinfassungen, hier mit Sowjetmotiven; typische Merkmale einer historischen sibirischen Siedlung. Zentrum von Berjosowo, 1593 als Ostrog gegründet. Bild: Manuel Pestalozzi
Reichtum kommt aus dem Untergrund. Abgefackeltes Gas einer Erdöl-Förderstätte, vom Ob her gesehen. Bild: Manuel Pestalozzi
Schatztruhe
Alaska, das die Zaren 1867 an die USA verkauften, musste ab 1896 einen Goldrausch über sich ergehen lassen. Eine derartige Invasion individualistischer Glücksritter erlebte Sibirien nie. Zwar wurden auch hier Gold und andere wertvolle Bodenschätze – Metalle, fossile Brennstoffe, Edelsteine – entdeckt, der Abbau erfolgte aber ähnlich wie in Südafrika organisiert. In den Minen arbeiteten Angestellte und nicht selten Strafgefangene. Die Erkenntnis, dass Sibiriens Reichtum im Untergrund versteckt ist, führte erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer konzentrierten, flächendeckenden systematischen Ausbeutung dieser Bodenschätze, im Umfeld des Flusses Ob von Erdöl und Gas.
Typische Doppelstockbaracke aus den 1950er-Jahren als Personalunterkunft, Chanty-Mansijsk. Bild: Manuel Pestalozzi
Ab den 1960er-Jahren plante die Sowjetunion in Sibirien Städte für das Personal von Förderstätten. Zuerst brachte man dieses in einfachen zweigeschossigen Holzbauten unter, die zu eigentlichen Barackensiedlungen zusammengefasst wurden. Diese bilden heute Teil von jungen, neu gegründeten Städten wie Surgut (306'000 Einwohner) oder Nischnewartowsk (251'694 Einwohner). Als Company Towns verdanken sie ihre Existenz alleine den Bodenschätzen. Nach den Baracken kamen die Boulevards, Prospekte und Plattenbauten. Mit ihren riesigen Wohnscheiben, grossen Höfen und weitläufigen Grünflächen wirken diese ins sumpfige Gelände gestellten Stadtorgnismen wie Phantasien, die einst an CIAM-Kongressen diskutiert wurden.
45-Jahr-Jubiläum von Nischnewartowsk auf dem 60. Breitengrad. Am unteren Rand der Ob. Bild: www.skyscrapercity.com
Zögerlich bebaute Uferzone von Nischnewartowsk mit neuer Moschee. Bild: Manuel Pestalozzi
Wohlstand und Identität
Die neuen Städte Westsibiriens zählen zu den reichsten Russlands. Die Löhne sind überdurchschnittlich hoch, die Leute sollen sich etwas leisten können. Diese als Kompensation für die Abgeschiedenheit gedachte Massnahme schlägt sich im Stadtbild kaum nieder. Fern sind Dubai oder Astana, wo Emire und Potentate ihre angestammte Heimat aufpolieren. Der grosse Profit wird nicht in diese Siedlungen investiert, er fliesst ab. Trotzdem sind da und dort Zeichen eines bescheidenen Wohlstands zu sehen: neue Schulhäuser, schmucke Datschen, die Anwendung greller Farben, welche wohl vor allem die winterliche Monotonie etwas erträglicher machen soll. In manchen Punkten unterscheiden sich die Ortschaften und der Lebensstil wohl wenig von dem, was man aus Kanada oder Alaska kennt.
Post-sowjetische Folly unter einem «amerikanischen Himmel». Die private Sprachschule im Zentrum von Surgut mit ihrem «Big Ben» ist ein bescheidener Beitrag an die kollektive Erinnerung. Bild: Manuel Pestalozzi
Die koordinierte Anstrengung, einer Stadt jenseits der förderungstechnischen Existenzberechtigung ein individuelles Gepräge und einen eigenen Charakter zu geben, liess sich auf der Flussreise nur in Chanty-Mansijsk wahrnehmen, dem Verwaltungssitz des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen/Jugra, in dem auch Surgut und Nischnewartowsk stehen. Die Stadt mit ihren rund 80'000 Einwohnerinnen und Einwohnern befindet sich am Fluss Irtysch, wenige Kilometer vor dessen Vereinigung mit dem Ob. Und sie erstreckt sich beidseits eines bewaldeten Hügelzugs, der sich einsam in der weitgehend flachen Umgebung erhebt.
Die Topographie wurde genutzt, um in Hanglage einen grösseren Kirchen- und Veranstaltungskomplex zu erstellen. Die Sakralbauten orientieren sich in Form und Typologie an den Strukturen von vor 1917 – als hätte es die Russische Revolution nie gegeben. Materialisierung und Ausführung sind wohl von zweifelhafter Qualität, doch das vertraute Erscheinungsbild verheisst Permanenz.
Ausserdem möchte Chanty-Mansijsk zu einem Biathlon- und Schach-Mekka avancieren und internationale Konferenzen nach Sibirien locken. Stolz wurde den Touristen das Biathlon-Stadion gezeigt, das auf dem Hügel in den Wald gepflanzt wurde. Und ein Blick von der Schach-Akademie, ein expressives, aluminiumgeschupptes Gebäude des Holländers und Ex-Mecanoo-Mitglieds Erick van Egeraat, liess sich immerhin im Vorbeifahren in einer zentralen Seitenstrasse erhaschen.
Nach einem Entwurf von Foster and Partners ist auf der Hügelkrete über Chanty-Mansijsk ein «New Ecological Tower» geplant. Das Projekt stammt von 2007, es werden Vorbereitungsarbeiten rapportiert. Seit 2008 gibt es darüber keine Neuigkeiten mehr. Bild: Foster and Partners
Mit Begeisterung erzählten die Einheimischen den Angereisten von diesen Zukunftsplänen für Chanty-Mansijsk. Auf die Frage, wer denn hier die treibende Kraft sei, verwies man auf den «letzten Gouverneur», gemäss Recherchen des Autors ist dies ein Mann, der 2010 durch eine Nachfolgerin ersetzt wurde. Seit der Wirtschaftskrise von 2008 ist scheinbar nicht nur in Sibirien sondern in ganz Russland der bauliche Fortschritt nur noch zögerlich.
Auch kleinere Ortschaften leisteten sich dank der Ölförderung Extravaganzen. Kulturkomplex in Oktjabrskoje (3640 Einw.). Bild: Manuel Pestalozzi
Anti-Perspektivisch
Der Ob ist ein Fluss ohne wirkliches Ufer, er hat zahlreiche Nebenarme und mäandriert in engen Schlaufen durch eine weitgehend konturenlose Landschaft. Fluchtpunkte für eine Perspektive gib es keine, die Sicht reicht bis zur nächsten Biegung der Wasserstrasse. Satellitenbilder erinnern an ein Tableau, das ein expressionistischer Maler mit kräftigen Pinselstrichen in verschiedenen blau-grün-Tönen bearbeitet hat. Dazwischen gelegentlich die isolierten Öl- und Gas-Förderplätze am Ende von Strassen, eine Struktur, die an die Platine eines Motherboard erinnert. Jungfräuliche Wildnis schaut anders aus.
Sibirien bietet keine unberührte Landschaften, die Ausbeutung der letzten Jahrzehnte hat deutliche Spuren hinterlassen, die zwar oft nicht sicht- aber doch stets ahnbar sind. Wilde Tiere kommen am Ob trotz der geringen Siedlungsdichte nicht vor. Selbst die Vogelwelt ist angesichts der weit ausgedehnten Sumpfgebiete ausgesprochen dürftig und auch quantitativ bescheiden. Regelmässig ziehen stillgelegte, halb zerfallene Fischfabriken vorüber. In den erwähnten Heimatmuseen wird stolz erzählt, wie die Rote Armee während des heute an jeder Ecke kommemorierten «Grossen Krieges» (d. h. 1941 bis 1945, 1939 bis 1940 wird ausgeblendet) auf die Konserven aus Westsibirien zählen durfte. Längst ist ausgefischt, die Erdölförderung und die mit ihr einhergehenden Verschmutzungen fordern ihren Tribut.
1925 verlor die Siedlung Narym das Stadtrecht, das ihr 1601 verliehen wurde. Bild: Manuel Pestalozzi
Sibirien mag Erinnerungen wecken, oft vermutliche nicht besonders gute, manchmal vielleicht auch Sehnsucht. Existenzen sind hier fragil, und die Fragilität kann durchaus einen ästhetischen Reiz haben. Dies offenbarte sich während der Flussreise in der Ortschaft Narym besonders deutlich. Auch hier gibt es das obligate Ortsmuseum – es kann sogar mit einer Riesenbüste von Stalin aufwarten, die das Zentrum einer altarartigen Installation bildet. Denn der Sowjetherrscher aus Georgien verbrachte anfangs des 20. Jahrhunderts einige Wochen als Verbannter in der Gemeinde. Seine vergleichsweise komfortable Unterkunft ist ins Freigelände des Museums integriert.
Der «Ballenberg-Effekt» erstreckt sich in Narym allerdings auf den gesamten Ort und umfasst sogar die zahlreichen Dreiräder, die am Rand der ungepflästerten Strassen geparkt sind oder knatternd über die Kiespisten zuckeln. Die stehengebliebene Zeit wirkt ungekünstelt, der Zerfall ist an allen Ecken sichtbar, niemand scheint den Willen oder die Kraft zu haben, diesen aufzuhalten. So kann es möglich sein, dass sich die Natur gemächlich aber unaufhaltbar Sibirien zurückholt.