Haus der Wandlung

Susanna Koeberle
12. de setembre 2019
Der Schriftzug «(no) vacancy» ist von Weitem sichtbar. Das Haus steht noch bis nächsten Sommer auf einer Dachterrasse am ETH Campus Hönggerberg. (Foto: Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten)

Wie werden wir in Zukunft wohnen? Das ist eine Frage, die nicht nur Trendforscher*innen oder Designer*innen beschäftigt. Umso mehr erstaunt es, dass sich die Immobilienbranche wenig für sie interessiert. Zu Unrecht findet das Zürcher Architekturbüro Edelaar Mosayebi Inderbitzin (EMI). Denn unser Wohnverhalten reflektiert auch gesellschaftlichen Wandel. Soziologie und Architektur sind durchaus wesensverwandte Disziplinen. Häuser werden nämlich nicht (nur) um ihrer selbst willen gebaut, sondern für Menschen und entsprechend ihrer Bedürfnisse. Zumindest wäre das der Idealfall. In ihrer Praxis interessieren sich Edelaar Mosayebi Inderbitzin auch für soziologische Aspekte von Architektur und an der ETH forscht Elli Mosayebi dazu. Im Rahmen ihrer Professur, die sie seit 2018 innehat, initiierte sie ein Forschungsprojekt, das Fragen des Wohnens ins Zentrum stellt. 

Die Musterwohnung ermöglicht auch eine allgemeine Studie, bei der das Verhalten der Bewohner*innen untersucht wird. (Foto: Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten)

Zu den heutigen Wohntrends gehören «Cocooning» oder «Homing» (dieses Sich-Einigeln vieler Singles kann auch bedenkliche Züge annehmen, wie man in vielen asiatischen Ländern sieht). Der Markt richtet sich nach diesem neuen «Trend» und reagiert mit neuen Produkten darauf. Nestbau ist ein urmenschlicher Trieb, darauf setzen auch die Hersteller. Gerade Design (von Möbeln über Accessoires bis zu Kleidern) geht immer stärker auf individuelle Bedürfnisse von Konsument*innen ein, dafür sprechen Begriffe wie «Customization». Und die Architektur? Müsste sie nicht auch auf diese Entwicklungen reagieren? Schliesslich sind heute in Zürich ein Drittel (!) der Wohnungen von Einpersonenhaushalten belegt. Welche Konsequenzen hat diese gesellschaftliche Veränderung für den Entwurf von Wohnungen? 

Die heute üblichen Standardlösungen, die nach wie vor die Mehrheit der Wohnungen prägen, basieren auf dem bürgerlichen Kleinfamilienmodell. Dieses hat heute ausgedient. Obwohl in den 1970er-Jahren vereinzelte Bemühungen und Experimente entstanden, verkrustete Wohn- und Familienformen aufzubrechen, stehen wir heute am gleichen Punkt. Neue Lösungen sind diesbezüglich gefragt. Raumplanerische Problematiken wie die zunehmende Zersiedelung bilden zwar heute eine wichtige Herausforderung für Architekt*innen, dennoch zeichnen sich gerade in Städten neue Wohnformen ab, die es ebenso ernst zu nehmen gilt. Eine eingehende Analyse dieser Entwicklungen sowie die These, dass der Wunsch nach Wandelbarkeit heutigen Bedürfnissen entspreche, bilden den Ausgangspunkt des Wohnexperiments am Hönggerberg, das Edelaar Mosayebi Inderbitzin einen «performativen Raum» nennen. Dieser soll sich nämlich nach den individuellen Bedürfnissen der Bewohner*innen richten. Was bedeutet dies nun konkret?

So funktioniert der «performative Raum». (Fotos: Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten)

Der Innenraum der aus Massivholzplatten (CLT-Platten) bestehenden vorfabrizierten Konstruktion basiert in seiner Gliederung auf dem Prinzip der Wandelbarkeit. Dabei spielen bewegliche Elemente (Drehtüren, beziehungsweise Drehwände und ein Drehschrank) die Hauptrolle. In wörtlichen Sinn, denn diese werden durch ihre Beweglichkeit zu Akteuren. In einem Pas de deux mit den Bewohner*innen lassen sich die Bauteile je nach Laune und Bedarf verschieben, sodass unterschiedliche räumliche Konstellationen entstehen. Der Raum ist tatsächlich performativ. Die Aktionen der Bewohner*innen werden durch Sensoren gemessen und am Schluss ausgewertet. Ein weiteres prägendes Element sind die teilweise erhöhten Böden, die zugleich als Stauraum oder als Sitz- und Liegefläche dienen. 

Betritt man die Kleinwohnung (Geschossfläche: immerhin 50 Quadratmeter) fällt die angenehme Raumhöhe von 2,65 Metern auf, die etwas höher ist als der Standard. Auch die Materialisierung der Böden, ein ochsenblutroter Linoleum, schafft eine warme und wohnliche Atmosphäre, ohne dass viele Möbel oder Krimskrams herumstünden. Die Holzwände wurden silbergrau, die Decken weiss gestrichen, Spiegel dehnen die Raumwirkung. Jedem Detail, das man berührt, schenkten die Architekt*innen besondere Aufmerksamkeit. Die schwenkbaren Leuchten etwa können – wen wundert es – auch bewegt werden. Und zwar dank eines herunterhängenden Stoffriemens, der eine ganz intuitive Bedienung erlaubt. Die Tür zum Bad schmückt ein gläserner Griff oder besser gesagt: Funktion und Ästhetik werden nicht als getrennte Kategorien betrachtet. Der Mensch lebt auch von Schönheit. 

Der rote Linoleum-Boden schafft eine warme Atmosphäre. (Foto: Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten)

Es sind auch solche Finessen, die dieses Musterstück zu einem Schaustück machen, in dem verschiedene Massstäblichkeiten, Muster und Mittel koexistieren können. Architektur trifft Quantenphysik. Die Einrichtung ist spartanisch, aber hat durchaus Stil (ohne diesen Begriff überstrapazieren zu wollen). Als Partner dafür konnte das Einrichtungsgeschäft Neumarkt 17 gewonnen werden. Die Firma Nomadenschätze sponserte sämtliche Sitzkissen aus antiken Kelims. Überhaupt lässt sich ein solches Projekt nur dank verschiedener Sponsoren verwirklichen. Die Kosten von 200'000 Franken (ohne Einrichtung) erscheinen nicht übertrieben. Vernünftig sollen auch die Mieten des Projekts an der Stampfenbachstrasse sein. Von wegen intelligentem Haus: Dieses Low-Tech-Experiment zeigt, dass ein Haus nicht smart sein muss, sondern adaptiv. Wir brauchen keine Wohnroboter, die wir herumkommandieren (oder umgekehrt?), sondern Häuser, mit denen wir tanzen können. Schöne Aussichten. 

Spiegel dehnen den Raum optisch. (Foto: Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten)
Grundriss des Mock-ups mit Isometrien der beweglichen Bauteile. (Plan und Grafiken: Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten)

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