Der Faktor Mensch ist am wenigsten berechenbar
Inge Beckel
22. de març 2012
Bilder: Hochschule Luzern / Beat Brechbühl
Sieben Fragen an Colette Peter zum interdisziplinären Studium Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung.
Frau Peter, wer studiert bei Ihnen Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung? Sind es Architektinnen, Planer, Wirtschaftleute, Soziologinnen, Touristiker, Mitarbeitende aus der Verwaltung?
Ja, die Spannweite der disziplinären Herkunft unserer Studierenden ist sehr breit. Es handelt sich um einen interdisziplinären Studiengang, eine Kooperation zwischen den Departementen der Hochschule Luzern Soziale Arbeit und Wirtschaft mit interdisziplinärer Studienleitung (eine Soziologin und ein Volkswirt). Die Aufgabe einer Gemeinde-, Stadt- oder Regionalentwicklung kann nicht eine Disziplin allein lösen, sondern es braucht die enge Zusammenarbeit verschiedener Fachleute. Deshalb ist die Studiengruppe interdisziplinär zusammengesetzt: Bei uns studieren Architektinnen, Fachpersonen aus dem sozialen Bereich, Soziologen, Ökonominnen, Raumplaner. Zudem dabei sind Exekutivpolitiker aus kleineren Gemeinden, Geografinnen und Personen mit einem geisteswissenschaftlichen oder ökologischen Hintergrund. Ihnen gemeinsam ist, dass sie sich für Entwicklungsprozesse in Städten und Regionen interessieren und dabei bewusst den Kontakt zu anderen Disziplinen suchen. Sie haben realisiert, dass es bei einer innovativen Regionalentwicklung nicht nur um ökonomische Wertschöpfung geht, sondern auch soziale und kulturelle Entwicklungen gefordert sind.
Was lernen die Studierenden? Welches sind die Schwerpunkte der Ausbildung?
Die Studierenden lernen vorerst den dynamischen Wandel in Städten und Regionen besser zu verstehen, dies aus politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Perspektive. Sie eignen sich verschiedene Instrumente und Methoden an, mit deren Hilfe sich dieser Wandel proaktiv gestalten lässt. Sie lernen, wie man verschiedene Anspruchsgruppen, die unterschiedliche Interessen vertreten, untereinander vernetzt, Wissen erschliesst und wie man mit ihnen auf ein gemeinsames Ziel hin arbeitet. Darüber hinaus lernen sie, wie man die Bevölkerung einbezieht, also wie man partizipative Prozesse konzipiert und realisiert. Dabei befassen wir uns mit Entwicklungsprozessen sowohl in städtischen wie auch in ländlichen Räumen.
Und nicht zuletzt lernen die Teilnehmenden interdisziplinär zu arbeiten, diese Fähigkeit wird in unserem Studiengang systematisch und in konkreten Projekten trainiert. Im aktuellen Studiengang arbeiten die Studierenden in interdisziplinär zusammengesetzten Teams an Lösungsvorschlägen für ein Quartier, welches sich im Umbruch befindet. Da wir als Hochschule selber in der praxisorientierten Forschung tätig sind, können wir den Studierenden Lernfelder ausserhalb des Schulzimmers bieten.
Sie werden befähigt, zusammen mit Personen aus anderen Fachbereichen integrale Lösungen zu entwickeln: Das heisst, es werden sowohl soziale wie auch ökonomische Aspekte, die bauliche wie auch die politische Dimension berücksichtigt. Beispielweise bei einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung: Für ein gelingendes Nachbarschaftsleben müssen ja nicht nur bauliche, sondern auch soziale Voraussetzungen geschaffen werden. Architektinnen, die bei uns das MAS absolviert haben, wissen das und werden dieses Wissen in Zukunft gezielt einbeziehen, indem sie mit Fachpersonen aus der Sozialen Arbeit oder mit Soziologinnen zusammenarbeiten.
Wo werden sie nach ihrem Abschluss vorzugsweise arbeiten? Wo braucht es sie?
Fast alle unsere Teilnehmenden arbeiten bereits im Aufgabenfeld der Gemeinde-, Stadt oder Regionalentwicklung, für das sie sich nun zusätzliche Qualifikationen erwerben wollen. So möchten Sozialarbeitende mehr über die ökonomischen Zusammenhänge erfahren, Regionalmanager möchten wissen, wie man die Bevölkerung in die Entwicklung eines Naturparks einbeziehen kann. Dann gibt es Gemeindepolitiker, die sich in Gemeindeentwicklung weiterbilden möchten. Und schliesslich kommt auch immer wieder vor, dass jemand sich neue berufliche Perspektiven eröffnen möchte. So hat sich eine Historikerin, die sich beruflich verändern wollte, während der Weiterbildung erfolgreich als Stadtentwicklerin einer mittleren Schweizer Stadt beworben.
Fachpersonen mit den in diesem Studiengang vermittelten Qualifikationen werden heutzutage je länger desto mehr gesucht, weil Gemeinden, Regionen und Städte vor vielfältigen Herausforderungen stehen, die sich nur noch interdisziplinär lösen lassen.
Bild: Hochschule Luzern / Beat Brechbühl
Was können Behörden für eine nachhaltige Entwicklung der Schweizer Stadtlandschaft tun?
Sie können sehr viel tun, indem sie sich nicht nur von kurzfristigen Interessen - auf die laufende Legislaturperiode konzentriert - oder von wirtschaftlichen Zielen leiten lassen, die zwar auch wichtig sind, aber bei weitem nicht der einzige Garant für eine nachhaltige Entwicklung darstellen. Sie können sich einsetzen, dass die vorhandenen Instrumente der Raumplanung wirklich angewendet und umgesetzt werden, ich denke hier an Instrumente wie Quartierpläne, aber auch an Architekturwettbewerbe, Masterpläne und das gezielte Nutzen von Programmen des Bundes wie Projects Urbains. Sie können die Zusammenarbeit innerhalb der verschiedenen Verwaltungsabteilungen gezielt fördern und einfordern. Darüber hinaus können sie die Zusammenarbeit mit Fachhochschulen suchen: Diese sind vertraut mit neuen Entwicklungen sowie wissenschaftlichen Erkenntnissen und sind in der Lage, sie in der Praxis umzusetzen und anzuwenden. Und nicht zuletzt können sie ihr Personal stetig weiter qualifizieren lassen.
Welche Auswirkungen hat die demografische Entwicklung der Gesellschaft in räumlicher Hinsicht? Werden gewisse Regionen zu Brachen, weil die Jungen dort nicht leben wollen?
Der demografische Wandel wird sich je nach Gebiet sehr unterschiedlich auswirken, besonders stark werden die peripheren und dünner besiedelten Gebiete der Schweiz betroffen sein. Räumlich wird es zu stärkeren Konzentrationen und zum Umbau von Infrastrukturen, Dienstleistungsangeboten sowie sozialen Einrichtungen kommen, was wiederum Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten der Menschen hat.
Ebenso stark aber werden sich soziale Strukturen verändern. Bisherige Untersuchungen zeigen, dass es vor allem die gut gebildeten jungen Frauen sind, die abwandern. Abwanderung bedeutet immer auch einen Verlust des sozialen Kapitals und der Innovationsbereitschaft. Erfahrungen in unseren Forschungsprojekten (z. B. BESTAndermatt - s. rechte Spalte) zeigen, dass entgegen der landläufigen Meinung viele der Jungen, die in peripheren Gebieten aufgewachsen sind, gerne auch in Zukunft hier leben respektive wieder zurückkehren möchten, wenn sie denn Perspektiven und geeigneten Wohnraum haben. Gerade für letzteres könnte man mehr tun. Es hat sich darüber hinaus gezeigt, dass sich Jugendliche gerne stärker am politischen Gemeindeleben beteiligen würden und einbezogen werden möchten in die Entwicklung ihrer Region. Sie sind aufgeschlossen neuen Ideen gegenüber und identifizieren sich stark mit ihrer Herkunftsregion. Diese Potenziale wurden bisher noch zu wenig erkannt. Es muss also nicht unbedingt zu Brachen kommen.
Sie leiten das Forschungsprojekt «Genderkompetenz in der schweizerischen Regionalpolitik und Regionalentwicklung». Gibt es bezüglich Genderkompetenz ein Stadt-Land-Gefälle?
Es geht nicht um ein Gefälle, sondern darum, dass die Lebensverhältnisse und Mentalitäten in städtischen und ländlichen Räumen verschieden sind: So fehlt es in ländlichen Gebieten noch oft an ausserfamiliären Betreuungsstrukturen für Kinder. In ländlichen Räumen sind Frauen stärker im freiwilligen Engagement tätig, doch nimmt auch hier die Bereitschaft dazu stetig ab. Gleichzeitig kann man sich nicht die gleichen professionellen Einrichtungen leisten, die in der Stadt selbstverständlich sind und die die freiwilligen Leistungen kompensieren könnten. Viele bisherige Konzepte wurden vor dem Erfahrungshintergrund städtischer Räume entwickelt, wie beispielsweise Massnahmen zur besseren Integration der ausländischen Bevölkerung: In einer Dorfgemeinschaft mit eher homogenen und geschlossenen Netzwerken braucht es andere Massnahmen als in einem urbanen Kontext, wo für viele Probleme professionelle Einrichtungen vorhanden sind. Dies gilt auch für Genderfragen. In unserem Forschungsprojekt hat sich herausgestellt, dass ländlich geprägte Regionen erkannt haben, dass sie spezifische, auf ihre Besonderheiten zugeschnittene Lösungen brauchen. Die Regionen sind sehr interessiert, ihre spezifischen Ressourcen wie etwa das Wissen der Frauen in Zukunft besser zu erschliessen und für sich zu nutzen. Die regionalpolitische Ebene ist sehr gut für die Implementierung von Genderkompetenz geeignet, da hier Akteure und Akteurinnen aus den verschiedenen institutionellen und sozialen Zusammenhängen aufeinandertreffen.
Wie sieht Ihre Vision 2050 der Schweiz aus?
Ich sehe eine räumlich vielfältige und klar strukturierte Schweiz, zu der qualitätsvoll gestaltete Agglomerationen gehören wie auch urbane Zentren, aber auch Dörfer mit intaktem Ortsbild. Ich sehe unterschiedliche Kulturlandschaften, Naturparks und schliesslich auch Wildnis und unberührte Natur: dies alles auf kleinstem Raum. Ebenso wünsche ich mir eine Schweiz, die kulturelle Vielfalt zu erhalten weiss und die es weiterhin zulässt, dass hier verschiedene Menschen mit verschiedenen Lebensstilen und Einstellungen leben können und die weiterhin eine vergleichsweise hohe soziale Sicherheit geniessen. Und eine Schweiz, die ihre kleinteiligen und vielfältigen räumlichen Strukturen mit guter Architektur unterstützt und umsichtig mit ihren natürlichen Ressourcen und ihrer Umwelt umgeht. Wer weiss, vielleicht sind 2050 auch einige der Bausünden abgebaut? Doch hängt dies alles vom Verhalten der Menschen ab, und als Soziologin weiss ich: Der Faktor Mensch ist der, der am wenigsten berechenbar ist, es kommt häufig anders raus, als ursprünglich vorgestellt oder von Planenden ausgedacht.
Die Hochschule Luzern ist die Fachhochschule der sechs Zentralschweizer Kantone und vereinigt die fünf Departemente Technik & Architektur, Wirtschaft, Soziale Arbeit, Design & Kunst sowie Musik. Rund 5200 Studierende absolvieren ein Bachelor- oder Master-Studium, knapp 3900 besuchen eine Weiterbildung. Die Hochschule Luzern ist die grösste Bildungsinstitution in der Zentralschweiz und beschäftigt rund 1300 Mitarbeitende.
Anmerkung
Die Langzeitstudie BESTAndermatt untersucht die soziokulturellen Auswirkungen des Tourismusresort Andermatt.
www.best-andermatt.ch