Schwarz ist nicht gleich schwarz

Stefanie Haunschild
25. de maig 2023
Das Zürcher Architekturbüro Schneider Türtscher hat eine Wohnung in Vaduz instand gesetzt. Eine zentrale Rolle bei der Sanierung spielen kraftvolle Farben. (Foto: Beni Blaser)

Rund 40 Prozent des weltweiten CO2-Ausstosses gehen auf das Konto der Bauindustrie. Kein Wunder, nehmen angesichts von Klimakrise und Ressourcenknappheit die Forderungen nach einem Umdenken beim Bauen zu. Nicht ohne Erfolg: Kreislaufwirtschaftliche Prozesse beginnen sich zu etablieren, und das Bewusstsein für den schonenden Umgang mit Ressourcen und Boden wächst – zumindest hierzulande. 

Vor allem bei jüngeren Architekt*innen ist ein Unbehagen gegenüber dem bisher üblichen «höher, grösser, mehr» zu spüren. Sie bauen eher um als neu. Doch wenn statt der Abrissbirne der Malerpinsel ausgepackt wird, braucht es dann überhaupt noch Architekt*innen? Zwei Umbauten – einer in der Vaduzer Agglomeration, einer in Amden hoch über dem Walensee – sollen dabei helfen, eine Antwort auf diese Frage zu finden.

Der neue Eigentümer wuchs in Le Corbusiers Unité d’habitation in Marseille auf. Er erkannte das Potenzial der Wohnung und beauftragte die jungen Architekten mit dem Innenausbau. (Foto: Beni Blaser)
Foto: Beni Blaser
Blaues Gewölbe im Block

Vaduz an einem regnerischen Frühlingstag, die Wolken hängen tief zwischen den Bergen des Rätikons: Ort der Besichtigung ist ein siebenstöckiger Bau im Stadtteil Schwefel. Die Agglomeration ist dicht hier, die Ortsgrenzen sind räumlich nicht spürbar. Aufwendig bepflanzte Aussenräume und Details wie die schmiedeeisernen Ornamente an der Eingangstür zeugen beim Wohnblock von 1974 vom Gestaltungswillen des Erbauers, ebenso die Grundrisse der Wohnungen, wie eine renovierte 5-Zimmer-Wohnung im sechsten Stock zeigt. 

Die langjährige Mieterin gab die Wohnung altershalber auf, die Besitzerin der Liegenschaft, eine Bank, beschloss, die instandsetzungsbedürftige Wohnung in den Rohbauzustand zu versetzen und als Stockwerkeigentum auf den Markt zu bringen – ein Glücksfall für den heutigen Besitzer. Aufgewachsen in der Unité d’habitation in Marseille (1947) von Le Corbusier, erkannte er das räumliche Potenzial der Wohnung und beauftragte das junge Architekturbüro Schneider Türtscher aus Zürich mit dem Innenausbau. 

Deren Eingriffe konzentrierten sich vor allem auf die Oberflächen. Fast überall bedeutete das: Farbe! Und was für welche: Zum Zug kamen Anstriche eines Schweizer Herstellers, der auf natürliche Pigmente setzt. Den Auftakt macht das komplett in Schwarz gehaltene Entrée. Wie aus einer Höhle hinaus spät man von dort ins Esszimmer, das als Verteiler zur Küche, zum Gästezimmer sowie zum Schlaf- und Wohnzimmer dient. Letzteres öffnet sich über die ganze Breite zum Balkon, die Wand im Farbton Ombre brûlé fasst den Raum. 

Das Arbeitszimmer ist neu in einem intensiven Rotton gehalten. Je nach Lichteinfall lässt dieser die Konturen des Raumes verschwimmen. (Foto: Beni Blaser)
Blick von aussen auf den Wohnbau, der Mitte der 1970er-Jahre errichtet wurde. (Foto: Beni Blaser)

Doch die Architekt*innen strichen die Wohnung nicht einfach grossflächig an, sondern verliehen ihr durch die Farbigkeit eine konstruktive Geometrie. «Wir haben die Farbe nicht bis zum Rand gezogen, sodass die verbliebenen weissen vertikalen Streifen wie Pfeiler wirken. Das verleiht dem Raum eine zusätzliche Tiefe», erklärt Architektin Michaela Türtscher. Überhaupt, die Übergänge: Mal ist die Farbe um die Kante gezogen, mal gibt es eine klare Trennung, immer ist der Umgang mit Farbe situativ. 

Gut erkennbar ist das auch am Fussboden, der roh belassen, aber mit Steinöl, das an ausgewählten Stellen mit Pigmenten dunkel eingefärbt ist, behandelt wurde. Die so entstandenen Diagonalen wirken zunächst wie ein Schattenwurf. Erst auf den zweiten Blick wird klar, dass das Muster permanent ist. Und dann ist da noch das Bijou – ein Raum, den so wohl niemand in einem 1970er-Jahre-Wohnblock vermuten würde: Das Arbeitszimmer leuchtet in einem tiefen Blau, das so unwirklich ist, dass je nach Lichteinfall gar nicht klar ist, wo genau die Wand beginnt. Die Farbe, ein leuchtendes, von den Werken Yves Kleins inspiriertes Ultramarin, sorgt hier buchstäblich dafür, dass sich die Grenzen des Raums auflösen. Ein besseres Beispiel für die transzendente Wirkung von Farbe lässt sich kaum finden. 

Die neuen Besitzer eines historischen Strickbaus in Amden wünschten sich von den Architekt*innen, den besonderen Charakter des Hauses zu stärken. (Foto: Beni Blaser)
Die Strickwände sind im Inneren offen sichtbar. (Foto: Beni Blaser)
Schwarze Stube im Strickbau

Ähnlich, aber doch ganz anders zeigt sich das zweite Beispiel, ein über 250 Jahre alter Strickbau in Amden. Auch hier führte ein Besitzerwechsel zum Umbau. Die Architekt*innen des Büros Ruumfabrigg (Näfels/Zürich) kamen zum Projekt, als die Baubewilligung schon auf dem Tisch lag. Die neuen Besitzer wünschten sich statt einer umfassenden Modernisierung, den Charakter des Bestehenden zu stärken und das Haus, wo nötig, technisch auf den neusten Stand zu bringen. 

Mit dieser Haltung stiessen sie bei den Architekt*innen auf offene Ohren: «Als wir dazustiessen, befand sich der Bau eigentlich wieder im Rohbauzustand. Der Täfer war weitgehend entfernt, die historischen Oberflächen der jahrhundertealten Holzbalken waren sichtbar. Uns war klar, dass wir diesen rohen Charakter bewahren wollten», sagt Architekt Pascal Marx. 

Eigentlich ist die neue Wendeltreppe kein traditionelles Element eines Strickbaus. Doch in Amden wird sie zum Kunstgriff: Nahezu alle kreisförmig um sie angeordneten Räume sind nun miteinander verbunden, sodass ein Eindruck von Grosszügigkeit entsteht. (Foto: Beni Blaser)

Einer der wichtigsten Eingriffe bestand dann aber in einem für diesen Bautyp fremden Element: Eine Wendeltreppe im Zentrum des Hauses erschliesst neu die Etagen. Die kreisförmig um sie angeordneten Zimmer sind fast alle miteinander verbunden, sodass trotz der niedrigen Decken und der kleinen Fensteröffnungen der Eindruck von räumlicher Grosszügigkeit entsteht – ein mutiger Kunstgriff.

Auch bei diesem Umbau spielte Farbe eine zentrale Rolle. So ist das neue Treppenhaus dunkelblau gestrichen – wie die Samtauskleidung einer Schmuckschatulle. In den Haupträumen blieben die historischen Blockwände sichtbar, erhielten aber einen dunklen Anstrich – eine Reminiszenz an die «schwarze Stube», ein Zimmertyp, der etwa in mittelalterlichen Bauten im Kanton Schwyz verbreitet war. 

Der Umbau steht oberhalb des Walensees. Der Ausblick auf die Bergwelt ringsherum ist fantastisch. (Foto: Beni Blaser)
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Schwarz ist aber nicht gleich schwarz: Die Architekt*innen experimentierten gemeinsam mit dem Malerbetrieb mit verschiedenen Schattierungen, je nach Stockwerk erhielt das Schwarz eine Rot-, Grün- oder Blautönung. Die dunklen Wände lassen die Grenzen des Raums verschwimmen und lenken den Fokus zu den Fenstern und dem eigentlichen Höhepunkt: der phänomenalen Aussicht auf die Bergkette hoch über dem Walensee. 

Doch zurück zur Eingangsfrage: Wenn weniger neu gebaut, sondern «nur» renoviert wird – braucht es dann überhaupt noch Architekt*innen? Solange es Architekturschaffende gibt, die ihr Instrumentarium so virtuos beherrschen wie die Protagonist*innen hinter diesen beiden Umbauten, kann auf diese Frage nur mit einem beherzten «Unbedingt!» geantwortet werden. Angesichts der atmosphärisch starken, für die Bewohner*innen funktionierenden Bauten lässt sich sogar wünschen: Statt weniger sollten es noch viel mehr sein!

«Gutes Bauen Ostschweiz» möchte die Diskussion um Baukultur anregen. Die Artikelserie behandelt übergreifende Themen aus den Bereichen Raumplanung, Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur. Sie wurde lanciert und wird betreut durch das Architektur Forum Ostschweiz (AFO). Das AFO versteht alle Formen angewandter Gestaltung unserer Umwelt als wichtige Bestandteile unserer Kultur und möchte diese in einer breiten Öffentlichkeit zur Sprache bringen. 

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