Der beliebteste Veranstaltungsraum der Gemeinde? Die Kirche!
Daniela Meyer
10. de novembre 2022
Wo früher ein Wachthaus stand, erhebt sich heute das neue Nebengebäude über der Stützmauer des Kirchenareals. (Foto: Hanspeter Schiess)
In Herisau sind aus der anfänglich geplanten Renovation der evangelisch-reformierten Kirche ein pavillonartiges Nebengebäude und eine aufgewertete Parkanlage hervorgegangen. Damit ist die Kirche noch näher an die Bevölkerung gerückt.
Über leere Bänke kann sich die evangelisch-reformierte Kirche in Herisau nicht beklagen: Hier finden nicht nur Gottesdienste statt, sondern auch Konzerte, Brevetierungen der Armee oder die Jodlermesse. Die jährlich bis zu 200 Anlässe, die in der Kirche vor der Renovation stattfanden, hinterliessen jedoch ihre Spuren. Die ständigen Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen setzten insbesondere den barocken Stuckaturen zu. Am weissen Deckengewölbe setzte sich zudem viel Staub und Schmutz ab. Aber auch bauliche Eingriffe hatten das Erscheinungsbild der rund 400-jährigen, ursprünglich im spätgotischen Stil erbauten Kirche beeinträchtigt. Insbesondere die umfassende Restaurierung im Jahr 1960 und der damalige Einbau einer neuen Orgel auf der Empore führten zu einschneidenden Veränderungen. 2007 lobte die Gemeinde Herisau, die Eigentümerin der Kirche ist, gemeinsam mit der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde einen Studienauftrag für die Innenrenovation der Kirche aus. Mit einem Beitrag, der sich stark am Bestand orientierte, entschied das Architekturbüro Keller Hubacher aus Herisau das Verfahren für sich.
Vom Platz vor der Kirche reicht der Blick heute bis in die Tiefe des Areals, wo sich der aufgewertete Aufenthaltsbereich befindet. (Foto: Hanspeter Schiess)
Weiterbauen im Sinne MoosbruggersIn der Kirche fällt es nicht leicht, zu erkennen, was alt und was neu ist. Vielmehr ist es der ursprüngliche Charakter des einschiffigen Raums, der wieder zum Vorschein kommt und an den Geist des Stuckateurs Andreas Moosbrugger anknüpft, der die Kirche mit seiner Innenrenovation Ende des 18. Jahrhunderts wesentlich prägte. Wer vom Chor zurück zum Eingang blickt, erkennt einen verglasten Windfang, dessen vertikale Holzverkleidung einen Bezug zur darüberliegenden Orgel schafft. Dank der teilweisen Öffnung der 1960 eingezogenen Wand im Eingangsbereich blicken die Besucher*innen beim Betreten der Kirche wieder direkt in den Hauptraum. Die Sitzbänke sind in vier Reihen gegliedert und nehmen Bezug auf die drei Eingänge – entsprechend der anfänglichen Ordnung des 16. Jahrhunderts. Neu ist die visuelle Verwandtschaft von Kanzel, Taufstein und Emporenverkleidung. Diese drei Elemente weisen eine dunkle Marmoroptik auf. Dabei handelt es sich um eine Bemalung, die ganz im Sinne des Barock die Grundmaterialien Gips und Holz verfremdet.
Alt, neu oder bloss eine optische Täuschung? Die punktuell vorhandenen schwarzen Säulen sind verschiedenen Ursprungs. (Foto: Hanspeter Schiess)
Empore, Kanzel und Taufstein verfügen über dieselbe schwarze Marmoroptik, obwohl sich dahinter verschiedene Materialien verbergen. (Hanspeter Schiess)
Im Gegensatz zu anderen Wettbewerbsbeiträgen erhielten Eva Keller und Peter Hubacher die winkelförmige Empore. Auf die Kanzel ausgerichtet, zeugt sie von den frühen baulichen Veränderungen anfangs des 17. Jahrhunderts aufgrund der Reformation. Das Architektenduo nutzte die lange Planungszeit für detaillierte Recherchen und traf letztendlich kaum Massnahmen, die irreversibel wären. Einen der tiefgreifendsten Eingriffe stellt die Erneuerung der Brüstungen der Empore dar. Ein darin verborgener Holzträger wurde durch den früheren Umbau beschädigt und musste nun ertüchtigt werden. Im Zuge dessen brachten die Architekturschaffenden Hoch- und Tiefton-Absorber in den Brüstungen unter, die zusammen mit weiteren Massnahmen für eine merkliche Verbesserung der Akustik sorgen. Das spitz zulaufende Kirchendach über dem weiten, mit schlichten Stuckaturen verzierten Gewölbe öffneten sie vollständig, um eine neue Isolation anzubringen. Von all diesen Arbeiten ist heute wenig zu spüren.
Ein kleines Rätsel gibt die Glastür in der nördlichen Seitenwand auf: Woher wohl der Schattenwurf der darauf erkennbaren Säulen stammt? Tatsächlich verbirgt sich dahinter keine Säulenhalle, sondern die kleine Annakapelle. Mit der in Airbrush-Technik auf der Tür aufgebrachten Bemalung verweist der Künstler Markus Müller auf das neue Bauelement. Auch den beiden Betonstützen im Eingangsbereich der Kirche, die aufgrund der Wandöffnung erstellt werden mussten, hat er einen Farbverlauf verpasst.
Material und Form des Neubaus weisen subtile Bezüge zur Kirche auf. (Foto: Hanspeter Schiess)
Holzschindeln verleihen dem Aufenthaltsraum im Nebengebäude einen wohnlichen Charakter. (Foto: Hanspeter Schiess)
Ergänzungsbau mit subtilen Bezügen zur KircheDie auffälligste Intervention nahmen Keller Hubacher aber nicht in der Kirche, sondern im dazugehörigen Aussenraum vor. Im Norden fügten sie der Anlage ein kupferfarbenes Nebengebäude hinzu, das sich an den Parzellenrand drängt und dem Verlauf der Stützmauer folgt. Der neue, pavillonartige Bau liegt an der Stelle, wo bereits 1772 ein Wachthaus stand. Er ordnet sich der Kirche auf der einen und dem historischen Fabrikantenhaus auf der anderen Seite unter, verfügt aber dennoch über eine eigenständige Form. Geprägte Kupferschindeln hüllen ihn in ein glänzendes Kleid, das über die Jahre dunkler und zurückhaltender erscheinen wird. Kupferschindeln sind auch auf dem Dach des Kirchturms zu finden, und die dem Park zugewandte Rundung des Pavillons, wo die Fenster angeordnet sind, erinnert an die polygonale Form des Kirchenchors.
Im Innern überrascht der Hauptraum mit einer Höhe von bis zu 6,5 Metern. Vom höchsten Punkt spannen fünf Holzträger zur Fassade und verleihen dem Raum einen zeltartigen Charakter. Analog zu den Materialverfremdungen in der Kirche sind die Träger kupferfarben bemalt. Hölzerne Schindeln bekleiden Decke und Wände und sorgen für eine wohnliche Atmosphäre. Der Ergänzungsbau, zu dem auch eine Toiletten-Anlage gehört, ermöglicht es, kleinere Veranstaltungen wie die Kinderbetreuung oder das Freitags-Café hier abzuhalten. Er lässt sich problemlos beheizen und hilft durch diese Verlagerung, die historische Substanz der Kirche zu schützen.
An der Planung waren nebst den Architekt*innen und der Gemeinde Herisau als Auftraggeberin auch die kantonale Denkmalpflege, der Verein Dorfkirche und die evangelisch-reformierte Kirchgemeinde beteiligt. Sie erkannten, dass das Bauvorhaben die Chance bot, auch den Aussenraum neu zu denken. In Zusammenarbeit mit den Landschaftsarchitekt*innen des Kollektiv Nordost entstand eine zum Platz hin offene Situation, die trotz der Verengung zwischen Nebengebäude und Kirche dazu einlädt, den kleinen Park zu besuchen, der aufgrund der Topografie nur von dieser Seite zugänglich ist. Die Entfernung des Brunnens, der zuvor an die Treppe vor der Kirche angrenzte, erleichtert den Zugang und ermöglicht Blickbeziehungen zwischen Platz und Park. Mäuerchen und Hecken wurden entfernt, und anstelle des einst segmentierten Aussenbereichs ist ein fliessender Raum getreten, geprägt von den drei über hundertjährigen Bäumen. Kreisförmige Grünflächen schützen deren Wurzelwerk, und eine ebenfalls runde Bank lädt zum Aufenthalt unter dem Ahorn ein. Im Rahmen der noch bevorstehenden Umgestaltung des angrenzenden Platzes soll dort später wieder ein Brunnen errichtet werden.
Dank der gesamtheitlichen Betrachtung der Bauaufgabe erfreut sich heute nicht nur die Kirche, die weiterhin Platz für bis zu 800 Personen bietet, reger Nutzung. Ergänzt um das Nebengebäude und den umgestalteten Park verfügt Herisau über ein prägnantes Ensemble im historischen Ortszentrum, das auch zukünftig ein aktives Gemeindeleben fördern wird.
«Gutes Bauen Ostschweiz» möchte die Diskussion um Baukultur anregen. Die Artikelserie behandelt übergreifende Themen aus den Bereichen Raumplanung, Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur. Sie wurde lanciert und wird betreut durch das Architektur Forum Ostschweiz (AFO). Das AFO versteht alle Formen angewandter Gestaltung unserer Umwelt als wichtige Bestandteile unserer Kultur und möchte diese in einer breiten Öffentlichkeit zur Sprache bringen.