Kunstwerke beleben ein ehemaliges Industrieareal
Susanna Koeberle
11. de setembre 2024
Das Legler Areal in Diesbach ist zurzeit Schauplatz für Kunst. (Foto: Huber/Sterzinger)
Wie Kunst ein alternatives Narrativ für Vergangenheit und Gegenwart spinnen kann, zeigt die diesjährige Klöntal Triennale auf dem Legler Areal in Diesbach.
In der Schweiz verlieren immer mehr Industriebauten ihre ursprüngliche Funktion. Es ist zwar nicht so, dass weniger produziert würde auf dieser Welt. Aber die sogenannten Industrienationen haben schwere Arbeit ausgelagert, da sie anderswo günstiger zu haben ist. Damit haben «wir» – damit meine ich jetzt die Schweiz, aber das Thema betrifft auch andere Industriestaaten – viele Probleme scheinbar aus der Welt geschafft. Was natürlich ein Trugschluss ist. Höchste Zeit also, genauer hinzuschauen. Und wo könnte das mehr Sinn machen als an den Orten ehemaliger Produktion? Genau ein solcher Ort ist das Legler Areal in Diesbach, Glarus Süd. Hier wurden bis vor rund zwanzig Jahren noch Textilien produziert. Die Gegend steht ganz allgemein für die einst blühende Schweizer Textilindustrie. Die Klöntal Triennale hat sich für die dritte Ausgabe des Kunstevents in einer Umgebung niedergelassen, die einige Anknüpfungspunkte zur Industriegeschichte erlaubt. Zugleich wird das Feld bewusst geöffnet.
Installtion von Julie Monot (Foto: Thalles Piaget)
Dass es Kunstschaffende sind, welche die Aufgabe übernehmen, alte Geschichte neu zu erzählen, macht ebenfalls Sinn. Denn Kunst kann gerade für paradoxe Konstellationen anschauliche Narrative liefern. Das heisst nicht, dass diese einfach zu verarbeiten sind. Kunstschaffende wie etwa Romy Nína Rüegger haben in den lokalen Archiven recherchiert und mitunter Unrühmliches zutage gefördert. Kultur trägt damit zu einer wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe bei: derjenigen der Erinnerung. Dabei geht es dezidiert nicht nur um Vergangenheit, sondern ebenso um Inhalte, die nach wie vor relevant sind. Denn häufig holt uns Vergangenheit ein. Die baulichen Relikte der ehemals lebendigen und international bedeutenden Textilproduktion im Glarnerland sind gleichsam beredte Zeugen einer bis in die Gegenwart reichenden Geschichte. Die kolonialen Verstrickungen der Textilproduktion wirken nämlich bis heute nach.
Subtile Intervention von Davide-Christelle Sanvee (Foto: Thalles Piaget)
So gehen heute mit dem Abgang textiler Produktion in der Gegend Abwanderung und ökonomische Stagnation einher. Das sind wichtige Themen, die ganz allgemein das Stadt-Land-Gefälle betreffen. Man könnte das Legler Areal als Beispiel für den 2005 durch das ETH Studio Basel geprägten Begriff der alpinen Brache lesen. Das postindustrielle Szenario bietet aber auch Gelegenheit, an ein wichtiges Kapitel Schweizer Geschichte zu erinnern. Das Glarnerland gehört bezüglich der Industrialisierung zu den Pionieren: Hier wurde Industriegeschichte geschrieben. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts blühte im Tal die Textilindustrie. In den zahlreichen Spinnereien, Webereien und Druckereien arbeitete damals rund ein Drittel der gesamten Bevölkerung, ältere Menschen und Kinder inklusive. Ein Grossteil der Arbeiten wurde allerdings von Frauen entrichtet. Gearbeitet wurde mehr als 12 Stunden täglich, auch am Sonntag. Erst in den 1860er-Jahren zeichnete sich eine leichte Verbesserung der Arbeitsbedingungen ab. An das Thema Arbeit knüpfen bei der Klöntal Triennale die Werke von Izidora I Lethe oder Veronika Spierenburg an.
1857 eröffnete die Familie Legler in Diesbach eine maschinelle Weberei, 1870 kam ein zweites Gebäude dazu und 1910 wurde die Spinnerei erbaut. Der Gebäudezuwachs widerspiegelt der Erfolg des Unternehmens, das alsbald auch Waren ins Ausland exportierte. Wobei man dazu anmerken muss, dass der Niedergang der Textilindustrie im Glarnerland sich aufgrund von Einfuhrzöllen schon Ende des 19. Jahrhunderts abzeichnete. Der Textilfabrikant Mathias Legler suchte deswegen Land im benachbarten Italien und baut 1875 eine Baumwollspinnerei bei Bergamo. Die Firma Legler war bis Ende des 20. Jahrhunderts ein europaweit führendes Textilunternehmen und ab den 1970er-Jahren bekannt für die Produktion von echtem Denim. Fazit: Die Geschichte des Areals bietet Stoff genug für eine vertiefte Auseinandersetzung.
Zeit für Reflexion bietet der Brunnen von Raul Walch. (Foto: Thalles Piaget)
Zurück also zur Kunst und zur Klöntal Triennale, die dieses Jahr mit ihrem Motto «In a State of Flow» die Ströme von Waren, Wasser oder Energie ins Visier nimmt. Ganz wörtlich genommen hat der Künstler und Aktivist Raul Walch das Thema des Fliessens: Er baute beim Eingang zum Areal einen Springbrunnen mit Pool. Dieser soll als Versammlungs- und Erholungs-Ort dienen und zur Wiederbelebung dieses Unortes beitragen. Der Begriff Unort kann in diesem Zusammenhang durchaus positiv verstanden werden: Denn Brachen bergen Potenzial zur Transformation. Das Thema Umnutzung ist zurzeit in der Architektur omnipräsent. Auch für dieses Areal gab es übrigens solche Pläne, die allerdings versandet sind. Über die ungewisse Zukunft kann man am Brunnen auch auf einer philosophischen Ebene nachdenken. Genau dazu möchte Raul Walch auffordern. Die einfache Brunnenkonstruktion aus lokalem Holz wird zum Sinnbild für die menschliche Fähigkeit zur Selbstreflexion – beziehungsweise für das Fehlen einer solchen. Doch so bierernst nimmt es der Künstler nicht: «Be a Frog», liest man auf dem Grund des Brunnens. Würde Menschen auch tierische Perspektiven einnehmen oder überhaupt andere als die ihnen «angeborene», dann wäre das durchaus ein Anfang.
«Ain’t no Fountain high enough» von Raum Walch (Foto: Thalles Piaget)
Zu einem radikalen Perspektivenwechsel regt auch die Arbeit «Orbit Diapason» von Tabita Rezaire an. Mit der wabenförmigen Kuppelstruktur ihres Werks kann man architektonische Utopien oder die Intelligenz tierischer Architektur assoziieren. Im Innern spinnt die Künstlerin diese Fäden mit einem Film weiter und führt dabei die Geschichte der Gegenwart mit spekulativen Mythologien der Zukunft zusammen. Auch diese Installation kurbelt das kritische Denken der Besucher*innen an, ohne mit dem Zaunpfahl zu winken. Vielmehr spinnt die Arbeit der Künstlerin subtil neue Erzählfäden: Sie webt gleichsam am Stoff kommender Zeiten und schafft damit zugleich alternative Geschichten für Gegenwart und Vergangenheit.
«Orbit Diapason» von Tabita Rezaire (Foto: Thalles Piaget)
Die Arbeiten der Kunstschaffenden beschwören den Geist der Vergangenheit herauf, der den Räumen unsichtbar eingeschrieben ist. Die daraus resultierenden sichtbaren Objekte sind allerdings mehr als nur schöne Kunstwerke. Sie erinnern Besucher*innen daran, dass wir nicht nur Zuschauer*innen sind auf dieser Erde. Auf dem Legler Areal wird der zerstörerischen Macht menschlicher Handlungen nachgespürt, aber mit einem hoffnungsvollen Blick auf die Möglichkeiten ihrer Metamorphose. Die Denkmäler des Glarner Wirtschaftswunders verwandeln sich für die Dauer eines Monats in eine bewusstseinserweiternde Kulturlandschaft.
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