«Die klassische Entwurfsarbeit scheint in der heutigen Nachhaltigkeitsdebatte aus dem Blickfeld zu geraten»
Daniela Meyer
25. d’abril 2024
Der Wettbewerbsbeitrag für die Unterbringung von 25 Alterswohnungen und die Verdichtung des geschützten Gebäudeensembles Kloos in Rheinfelden zielt darauf ab, eine neue Einheit zwischen Alt und Neu auf einer höheren Ebene zu etablieren. (Visualisierung: Nightnurse Images AG)
Zwei Themen liegen Aita Flury derzeit am Herzen: das Umbauen und die Nachhaltigkeit. Im Interview plädiert sie dafür, trotz all den aktuellen Anforderungen den gebauten Raum und dessen Wirkung nie aus den Augen zu verlieren.
Aita, im Vorfeld dieses Gesprächs hast du mir mitgeteilt, dass du unter anderem gerne über Nachhaltigkeit sprechen möchtest. Wie kommt es dazu und welche Aspekte sind für dich und deine Arbeit dabei relevant?
Aus meiner Sicht ist es wichtig, die Nachhaltigkeit in Zusammenhang mit der klassischen Entwurfsarbeit der Architekt*innen zu besprechen; sie in Bezug zu setzen zu architektonischen Fragen und räumlichen Themen. Denn ich glaube, dass es am nachhaltigsten ist, wenn wir gute Räume bauen. Räume, bei denen niemand auf die Idee kommt, sie je wieder abzureissen. Räume, die Bestand haben über lange Zeit, die robust und flexibel sind, aber gleichzeitig auch bestimmt. Räume, die angenehm sind im Gebrauch, die für den Menschen gemacht und an dessen Massstab angepasst sind. Dieser Aspekt kommt im Moment zu kurz in der Nachhaltigkeitsdebatte. Natürlich braucht es auch andere Ansätze wie Materialforschung oder Energiebilanzen. Doch letztere sind nichts anderes als Rahmenbedingungen wie das Raumprogramm auch. Nur diese zu erfüllen, reicht aus meiner Sicht nicht. Es stellt sich die Frage, wie man aus diesen Anforderungen architektonische Themen entwickeln kann.
In die Brüstungen integrierte Fotovoltaik-Flächen prägen die kräftigen, auf den Bestand referenzierenden Balkontürme des Wettbewerbsbeitrags für die Wohnsiedlung Am Rain in Luzern. Wie auch bei der Wohnsiedlung Luchswiesen und der Kita im Chärn in Mörschwil wurde die Fotovoltaik-Anlage zusammen mit dem Solarteam von Amstein + Walthert entwickelt. (Visualisierung: Nightnurse Images AG)
Beim Wettbewerbsbeitrag für die Wohnsiedlung Luchswiesen in Zürich-Schwamendingen ist die Fotovoltaik in ein raumhaltiges Fassadengerüst integriert, das gleichzeitig Balkonschichten und Fassadenbegrünung enthält. (Visualisierung: Nightnurse Images AG)
Welche Herausforderungen gibt es bei der Verknüpfung architektonischer Themen mit den Anforderungen an die Nachhaltigkeit?
Beispielsweise stellt die heute geforderte architektonische Integration der Fotovoltaik in die Gebäudehülle eine grosse Herausforderung dar, da es sich dabei um ein kaltes Material handelt. Dieses ist nicht menschennah, sondern reflektierend, hermetisch, clean. Auch wenn sich die Oberflächenqualität der Fotovoltaik-Paneele weiterentwickelt, bleibt ihnen eine grundsätzliche leibliche Kälte eingeschrieben. Deshalb finde ich es bedauerlich, dass ganze Gebäudehüllen mit diesem Material eingekleidet werden. Aus meiner Sicht sollte die Fotovoltaik vielmehr so eingesetzt werden, dass es städtebaulich und räumlich Sinn macht. Das gilt auch für andere Materialien, die derzeit propagiert werden, wie zum Beispiel Holz.
In deiner Arbeit zeigen sich unterschiedliche Ansätze, wie Fotovoltaik die Erscheinung eines Gebäudes prägen kann. Woher rühren die verschiedenen Anwendungsmethoden und wie sehen diese aus?
Zentraler Aspekt ist stets die Kontextualität von Gebäuden. Im urbanen Raum sehe ich eine Möglichkeit für die räumlich sinnvolle Integration der Fotovoltaik in Form von «Gerüsten», raumhaltigen Hüllen, die mehrere Funktionen aufnehmen können. Beim Projekt für die Wohnsiedlung Luchswiesen sind in ein solches Gerüst Balkone, Begrünung und Fotovoltaik integriert – jedes Element an der dafür geeigneten Stelle. Was einfach und logisch klingt, bedarf einer extremen Knochenarbeit in Grundriss und Schnitt, damit ausbalancierte Fassaden und gute dahinterliegende Innenräume entstehen. Diese klassische Entwurfsarbeit scheint in der heutigen funktionalistischen Nachhaltigkeitsdebatte zunehmend aus dem Blickfeld zu geraten. Zu betonen ist zudem, dass eine architektonisch selbstverständliche Integration von Fotovoltaik nur in enger Zusammenarbeit mit dem Fotovoltaik-Ingenieur stattfinden kann.
Beim Wettbewerbsbeitrag für die Kita im Chärn in Mörschwil wird die Fotovoltaik in Form traditioneller, kontextueller Abwürfe in die Fassade integriert. (Visualisierung: Nightnurse Images AG)
Einen anderen Ansatz hast du beim Wettbewerbsbeitrag für eine Kindertagesstätte in Mörschwil gewählt. Wie hast du die Fotovoltaik dort in Einklang mit der ländlichen Umgebung gebracht?
Die Fassaden dieser Kita zeigen allseits unterschiedliche, städtebaulich motivierte Artikulationen. An der Südfassade sind die beiden Obergeschosse der Sonne gewidmet: Die traditionellen Abwürfe der umliegenden Bauernhäuser werden dort zu Fotovoltaik-Flächen umgedeutet, die integraler Bestandteil der Gebäudegestalt sind und der Fassade Plastizität verleihen.
Hofseitig werden Neubau und Bestandsbauten des Kloos-Ensembles durch einen alles miteinander verbindenden Laubengang überformt. (Visualisierung: Nightnurse Images AG)
Du hast eingangs erwähnt, dass gute Räume weniger Gefahr laufen, wieder abgerissen zu werden. Um- und Weiterbauen sind Themen, die dich ebenfalls beschäftigen. Letztes Jahr hast du mit einem Wettbewerbsbeitrag für 25 Alterswohnungen in Rheinfelden den zweiten Platz erzielt. Wie bist du mit dem historischen Gebäudeensemble auf dem Planungsperimeter umgegangen?
Weiterbauen ist ein architektonisches Urthema. Alle Gebäude sollten so geplant werden, dass sie eines Tages weitergebaut werden können. Am Anfang von Umbauprojekten steht dann das Scannen: Was macht das Wesen einer Anlage aus? Welche Teile sind wichtig? Wo liegen die Probleme? Diese Analyse überlagere ich mit dem Programm, mit den neuen Anforderungen. Das Gebiet Kloos in Rheinfelden besteht aus einem dreiteiligen Gebäudekomplex: einem ehemaligen Siechenhaus, einer Kapelle sowie einem Verbindungstrakt. Es war mir ein Anliegen, die Masse von Bestands- und Neubauten auszubalancieren, was zu einer Aufstockung des Siechenhauses führte. Damit kann das eher kleine Haus zusammen mit dem Anbau genügend Masse und Kraft gegenüber dem Neubau entwickeln. Dieser ist hofseitig über einen vorgestellten Laubengang mit dem Siechenhaus und dessen Anbau verbunden. An der Kaiserstrasse treten die Baukörper aber weiterhin eigenständig in Erscheinung. Alle Massnahmen zielen darauf ab, durch ein ausgewogenes Verhältnis von Alt- und Neubauten das Ensemble als Ganzes zu stärken. Es geht beim Umbauen immer darum, auf einer höheren Ebene eine neue Einheit zu schaffen.
Aita Flury hat ihr Architekturstudium 1995 an der ETH Zürich abgeschlossen. Seither hat sie sich mit einer grossen Bandbreite an Bauaufgaben auseinandergesetzt, darunter zahlreiche Wohn- und Bildungsbauten oder Infrastrukturbauwerke wie Brücken. Zu den realisierten Gebäuden zählen der 2020 fertiggestellte Kindergarten mit Tagesstrukturen in Aarau Rohr oder das Mehrfamilienhaus La Contenta in Domat/Ems aus dem Jahr 2015.