Auf Idealismus gebaut

Elias Baumgarten
25. de juny 2024
Der Westhof entstand auf dem Gelände der früheren Gärtnerei Kohler. Architektur und Kunst-am-Bau verweisen auf die Geschichte des Areals, Nisthilfen und Bepflanzung sollen den Verlust wertvollen Lebensraumes für Vögel und Insekten so weit als möglich ausgleichen. (Foto: Roman Keller)

Bauen hat einen hohen Preis: Ressourcen werden in grossen Mengen verbraucht, Flächen versiegelt, Tiere und Pflanzen um ihren Lebensraum gebracht. «Für mich als Architekt ist das ein grosses Dilemma», meint Raoul Sigl nachdenklich, als wir den Westhof in Dübendorfs Hochbord-Quartier besichtigen. «Wir versuchen, die negativen Auswirkungen unserer Arbeit zu adressieren und sie aktiv miteinzubeziehen in den Entwurfsprozess.» Mit dem Bau des Hauses auf dem Grundstück der ehemaligen Gärtnerei Kohler, die Blumen und Gemüse züchtete, verschwand ein Eldorado für Vögel mit vielen Brutmöglichkeiten und reichhaltigem Nahrungsangebot. Kompensieren sollen das Nisthilfen, die überall verteilt sind. Raoul Sigl und Maria Conen haben sie in Zusammenarbeit mit der Vogelwarte Sempach entworfen. Die Hausbewohner bauen sie nach schön illustrierten Plänen; sogar eine Anleitung zum Anmischen umweltfreundlicher Farben haben sie bekommen. Im Hof, im Gemeinschaftsgarten und an den Rankgerüsten wachsen Pflanzen, die Insekten anziehen, von denen sich einheimische Vogelarten bevorzugt ernähren. Und wirklich: Auch wenn bei meinem Besuch noch nicht alle Vogelhäuschen montiert sind und die Pflanzen erst anwachsen müssen, summt und zwitschert es bereits im Westhof. 

Gebaute Haltung

Doch nicht nur Tieren und Pflanzen soll die Anlage eine neue Heimat werden, sondern auch einer bunten Bewohnerschaft: In Cluster-Wohnungen der Stiftung Altried leben Personen mit kognitiven und körperlichen Einschränkungen. Die gemeinnützige Genossenschaft Wogeno bietet Wohnungen zur Kostenmiete an, und die Palmahus AG der Familie Kohler vermietet in höherem Ausbaustandard zu dennoch erschwinglichen Preisen. Familien wohnen ebenso im Westhof wie Alleinstehende. Integration wird im Haus gelebt: Der soziale Hintergrund der Bewohnenden ist unterschiedlich, ihre Herkunft international.

Der Westhof liegt direkt an den Gleisen. Der niedrige Gebäudeteil im Vordergrund schirmt den Hof, zu dem die Wohnungen orientiert sind, vor dem Lärm der vorbeifahrenden Züge ab. (Foto: Roman Keller)
Der heiter gestaltete Kopfbau – hier vom Fuss- und Veloweg entlang der Gleise gesehen – heisst Bewohnende und Gäste willkommen. (Foto: Roman Keller)

Die Anlage besteht aus drei Gebäudeteilen: U-förmig angeordnet, fassen sie einen für alle zugänglichen Hof, der sich zum Quartier öffnet. Ein leicht eingedrehter Kopfbau heisst Bewohnende und Gäste willkommen. Mit seinem an der linken und rechten vorderen Ecke pultartig aufragenden Dachrand erinnert er an ein Gesicht – das wirkt sympathisch fröhlich und verspielt. Hinter dem Kopfbau schirmt ein dreistöckiger Baukörper den Lärm der gleich nebenan verlaufenden Bahnlinie ab. Ihm gegenüber ragt eine deutlich breitere neungeschossige Zeile empor. Über dem dritten Obergeschoss springt dieser Baukörper hofseitig zurück, sodass eine Terrasse entsteht. An sie grenzen nicht nur Wohnungen, sondern auch zwei sogenannte «Flexzimmer», die als Bastelraum oder Gästezimmer genutzt werden können, sowie zwei Musikzimmer. Zugänglich ist sie über eine stegartige Treppe vom begehbaren Dach des niedrigen Gebäudeteils entlang der Gleise. Jeder, der möchte, kann diesen Gemeinschaftsraum über einen frei stehenden, von Kletterpflanzen umschlungenen Treppenturm beim Hofeingang erreichen. Noch wird es auf dem Dach an schönen Sommertagen heiss, doch bald werden Pflanzen Schatten spenden, die an der Pergola hochranken. Die Stahlgerüste erinnern an die einstigen Gewächshäuser auf dem Hochbord und geben dem Westhof ein unverkennbares Aussehen. Wie die von Schichten grüner und grauer Welleternitplatten gegliederten Fassaden entspringen sie der Gestaltungsfreude der Architekten, die eine Vorliebe für starke Narrative haben.

Den Hof haben die Bewohnerinnen und Bewohner mitgestaltet. Er ist der Dreh- und Angelpunkt des Gemeinschaftslebens. (Foto: Roman Keller)
Die höhere Gebäudezeile springt hofseitig zurück, sodass eine Terrasse entsteht, an die Bastel-, Gäste- und Musikzimmer grenzen. (Foto: Roman Keller)

Unten im Hof trifft man auf Menschen aus dem ganzen Quartier. Angelockt werden sie von den Geschäften, die im Erdgeschoss eingezogen sind: eine Bäckerei, eine Kaffeerösterei mit Bar und ein Laden, der spanische Spezialitäten verkauft. Die Mieterinnen und Mieter, die sich im «Hofrat» organisiert haben, um gemeinsam an der Pflege und Verschönerung des Westhofs zu arbeiten, haben den Hofraum mitgestaltet. Das Mobiliar bauten sie teils selbst: An einem langen Tisch wird an lauen Abenden gegessen, getrunken und geplaudert, tagsüber toben Kinder auf hölzernen Spielgeräten. Raoul Sigl ist begeistert: «Zwar tun wir uns nicht immer leicht, die Kontrolle über das eigene Werk abzugeben und Aneignung zuzulassen, doch es lohnt sich sehr.» Besonders gefällt ihm, wie die Hausgemeinschaft den Hof für Feste und geselliges Zusammensein nutzt.

Bunte Küchen und Bäder kontrastieren mit vielen Betonoberflächen. (Foto: Roman Keller)
Foto: Roman Keller
Pragmatismus und Gestaltungswille

Gebaut wurde der Westhof aus Beton. Umweltfreundlich ist das nicht, doch um die Mieten niedrig zu halten, musste die Bauherrschaft sparen. «Beim zunächst angedachten Holzbau wären die Erstellungskosten zu hoch gewesen», erinnert sich Raoul Sigl und fügt hinzu: «Dafür haben wir die Anzahl der Parkplätze in der Tiefgarage reduziert. Wir erfüllen den Standard für Nachhaltiges Bauen Schweiz, kurz SNBS.» Viele der Wohnungen sind rau materialisiert, Betonoberflächen dominieren. Sockelleisten, fröhlich-bunte Küchen und farbige Fliesen in den Bädern verleihen ihnen trotzdem eine freundliche Note und machen jede Wohnung zu einem Einzelstück. Weil das aber nicht jedem gefällt, sind einige konventioneller gestaltet: Auf ihre Mieter warten Parkettböden und weiss gestrichene Wände. 

Durchgänge und Treppenhäuser sind mit Farbflächen ausgestaltet. (Foto: Roman Keller)
Spiegel sorgen für überraschende Perspektiven – ein architektonischer Kniff, der die rauen Erschliessungsräume aufwertet. (Foto: Roman Keller)

Sichtbeton prägt auch die Treppenhäuser. Ausgestaltet haben sie Conen Sigl mit Farbflächen, die die Wohnungseingänge hervorheben. Geschickt platzierte Spiegel lassen den Eindruck von räumlicher Komplexität entstehen und erzeugen überraschende Blickbeziehungen. Kleine «Fehler», die da und dort beim Betonieren passiert sind, haben die Architekten als Nobilitierung inszeniert. Zusätzlich aufgewertet wird das Haus von einem grossartigen Projekt des Künstlerduos Lutz & Guggisberg: Überall im Westhof sind Kunstwerke verteilt, die aus Fundobjekten vom Gelände der einstigen Gärtnerei gemacht sind. Viele der Skulpturen sind herzerwärmend und sehen aus wie freundliche Wesen. Eine schöne Anekdote, die viel über das Haus und die Menschen dahinter aussagt: Die Künstler sind mit so grossem Eifer bei der Sache, dass sie immer noch neue Arbeiten hinzufügen. Und so entdeckt Raoul Sigl auf unserem Rundgang mehrmals neu aufgestellte Figuren, die er sogleich erfreut fotografiert. 

Quirliges Stadtleben in der Agglomeration

Der Westhof ist ein Gewinn für Dübendorf. Denn obgleich im Hochbord inzwischen etliche neue Wohnbauten stehen, fehlte es bis anhin noch an Urbanität. Der für alle zugängliche Hof mit Geschäften und die öffentliche Dachterrasse verweben die Überbauung mit dem Quartier: Erwachsene kommen zum Einkaufen, Kinder zum Spielen, und Jugendliche chillen auf dem Dach. Der Westhof ist ein neues Stück Stadt für Menschen, die sich in Gemeinschaft wohlfühlen. 

Diese Skizze aus dem Wettbewerb zeigt, dass der Entwurf bis zur Realisierung nur wenig verändert wurde. Das auffällige Schild mit der Aufschrift «Bello» missfiel den Nachbarn und wurde deswegen nicht montiert. (© Conen Sigl Architekt:innen)
Situation (© Conen Sigl Architekt:innen)
Grundriss Erdgeschoss (© Conen Sigl Architekt:innen)
Grundriss 1. und 2. Obergeschoss (© Conen Sigl Architekt:innen)
Grundriss 4. Obergeschoss (© Conen Sigl Architekt:innen)
Grundriss 5. bis 8. Obergeschoss (© Conen Sigl Architekt:innen)
Querschnitt (© Conen Sigl Architekt:innen)
Längsschnitt (© Conen Sigl Architekt:innen)

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