Architektur für alle!
Susanna Koeberle
8. d’abril 2021
Schwimmbad auf der Dachterrasse des SESC 24 de Maio in São Paulo (Foto © Ciro Miguel, 2018)
Die Ausstellung «Access for All. São Paulos soziale Infrastrukturen» ist zurzeit im Schweizerischen Architekturmuseum zu sehen. Sie führt vor, welch zentrale Rolle der öffentliche Raum für Städte spielen kann. Das gilt sowohl für eine Megacity wie die brasilianische Metropole als auch für eine kleinere Stadt wie Basel. Die Schau wurde eigens für die Rheinstadt erweitert.
Die Definition des Privaten und des Öffentlichen wird auch in der Architektur diskutiert. Man könnte sich sogar überspitzt fragen, ob denn nicht jeder Raum ein öffentlicher sei. Wir sind soziale Wesen und die Interaktion mit unseren Mitmenschen prägt unser Dasein wesentlich. Diese Form des Dialogs kann durch den architektonischen Entwurf stark gefördert werden. Und die Auswirkungen dieser Vision von gebauter Umwelt sind gerade in grossen Städten erheblich. São Paulo etwa gehört zu den Megacities, die seit vielen Jahren einiges in ihre architektonischen Infrastrukturen investieren. Sowohl die Stadtregierung als auch private Institutionen haben die zentrale Rolle von öffentlichen Räumen für das Wohlbefinden der Stadtbewohner*innen erkannt. Diese Räume sind eng verflochten mit den Bauten, innen und aussen durchdringen sich und es entstehen Freiräume – im eigentlichen wie im übertragenen Sinne. Sie bieten Erholungsmöglichkeiten verschiedenster Art: Kultur, Sport und Bildung – oder einfach planloses Flanieren.
Die Ausstellung «Access for All» des Architekturmuseums der TU München zeigt eine repräsentative Auswahl solcher Bauten und Freiräume aus den 1950er-Jahren bis heute und schafft mit einer Adaptation für das S AM Basel eine Brücke vom grossstädtischen Gefüge São Paulos zu einer helvetischen Massstäblichkeit. Die Erweiterung der Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW (Institut Architektur, Lehrstuhl der Professorinnen Shadi Rahbaran und Ursula Hürzeler). Sichtbar wird diese Kollaboration durch eine Intervention im Aussenraum. Die Studierenden bauten im Rahmen eines Workshops eine Rampe, die während der Dauer der Ausstellung als temporärer Eingang ins Museum dient. Da die Fassade des Hauses denkmalgeschützt ist, durfte diese nicht angetastet werden, was die Idee einer «angedockten» Holzrampe als städtisches Mobiliar entstehen liess. Sie verbindet den Aussen- mit dem Innenraum und macht zugleich das konkrete Thema der Schau, nämlich «Access for All», physisch erlebbar. Rampen werden zudem auch in São Paulo regelmässig als verbindende Elemente eingesetzt.
Zugangsrampe zur Ausstellung «Access for All» im S AM (Foto © Laurian Ghinitoiu)
Empfangen werden Besucher*innen nicht durch eine Kasse, an der man Eintritt zahlen muss – denn dieser ist frei –, sondern durch eine wandfüllende Fotografie, die ein belebtes Schwimmbad mitten in der Stadt zeigt. Sofort fühlen wir uns in eine südländische Atmosphäre versetzt, die den lustvollen, vielleicht auch utopischen Aspekt des Ausstellungsthemas anschaulich vorführt. Der «Total Space»-Effekt wird unterstützt durch den Boden des Eingangsraums, der ein typisches städtisches Fliesenmuster aus den 1960er-Jahren zitiert. Im Hauptteil der Schau begegnen wir zwölf Projekten, erläutert durch Modelle (diese wurden letztes Jahr durch die Studierenden der FHNW erstellt), Zeichnungen, Pläne und Fotografien. Mehrere Videos, die Interviews mit Expert*innen vor Ort zeigen, geben Einblick in das Funktionieren und die Nutzung der Orte. Unterteilt sind die Projekte in drei Unterthemen: Freiräume, multiprogrammatische Bauten sowie Avenida Paulista, eine der wichtigsten Strassen der brasilianischen Metropole.
Die Avenida Paulista in São Paulo ist immer sonntags für Motorfahrzeuge gesperrt. (Foto © Ciro Miguel, 2018)
Ein ikonischer Entwurf im öffentlichen Raum ist der 1954 fertiggestellte Pavillon im Ibirapuera Park von Oscar Niemeyer (1907–2012). Die überdachte Struktur wird vielfältig und rege genutzt, denn sie bietet Schutz vor Sonne und Regen. Zwischen sechs und 75 Meter breit ist das Dach, es bildet eine Art eigene Landschaft in der Landschaft. Diese poröse Form von Architektur steht paradigmatisch für die gezeigten Projekte und zwar nicht nur für diejenigen in der Sektion Freiräume. Denn auch die geschlossenen Bauten betonen nicht den ausschliessenden Charakter von Mauern, sondern sind als durchlässige und offene Konstruktionen konzipiert. Ein typisches und verbindendes Merkmal der Bauten ist ihre Multifunktionalität. Das führen zwei Projekte des SESC (eine gemeinnützige Einrichtung für Geschäftsleute) vor: das SESC Pompéia (1977–1986) von Lina Bò Bardi (1914–1992), posthum aufgrund ihres Lebenswerks Gewinnerin des diesjährigen Goldenen Löwen der Architekturbiennale von Venedig, und das SESC 24 de Maio von Paulo Mendes da Rocha und MMBB arquitetos (2001–2017). Beide Bauten beherbergen eine Vielzahl an Nutzungen, von Kultur- und Sportzentren über Restaurants und Cafés bis hin zu medizinischen Einrichtungen. Zu den Freizeitangeboten gehört auch das Schwimmbad des SESC 24 de Maio, auf das wir schon beim Eingang trafen. Offen sind diese Bauten prinzipiell für alle, einzelne Einrichtungen sind Mitgliedern des SESC vorbehalten. Bemerkenswert erscheinen diese Orte auch, weil man sich darin aufhalten kann, ohne etwas zu konsumieren, es gibt Zonen, wo Menschen sich einfach setzen, dösen oder plaudern können. Die Sitzgelegenheiten im SESC 24 de Maio wurden von Paulo Mendes da Rocha entworfen und werden durch das brasilianische Label Ovo aufgelegt.
Der «Strand» im SESC Pompéia von Lina Bò Bardi (Foto © Ciro Miguel, 2018)
Für eine schnell wachsende Megacity wie São Paulo erscheinen diese Projekte in mehrfacher Hinsicht als vorbildlich. Mit der bereits erwähnten Porosität geht ein Kultivieren von Grünflächen einher. Das hängt zweifelsohne mit der Vegetation und dem Klima in Brasilien zusammen, doch es zeigt auch eine Haltung gegenüber Pflanzen, die nicht selbstverständlich ist. Bäume sorgen für ein angenehmeres Mikroklima, ihre Rolle für die Lebensqualität in einer Stadt wird in São Paulo offensichtlich gesehen. Bestimmt gibt es genügend gegenteilige Beispiele, doch dass es überhaupt solche Architekturprojekte gibt, ist per se schon ein Grund, sie in einer Ausstellung zu würdigen. Und dazu sind sie auch noch schön! Diesen Vorbildcharakter nahm sich auch die FHNW zu Herzen. Die Studierenden liessen ihren Ideen freien Lauf und entwarfen für Basel Projekte im öffentlichen Raum entlang des Rheins; ein weiterer Teil der Ausstellung bietet mit Guckkasten-Modellen die Möglichkeit, in solche Bauten hineinzuzoomen und den Stimmungen darin nachzuspüren. Auch wenn die Schweiz in vielen Bereichen wohl besser funktioniert als Brasilien: Lernen kann man immer auch von anderen Ländern und anderen Sitten. Darauf deutet auch das Motto der FHNW hin: «Learning from São Paulo». Trotz der unterschiedlichen Massstäblichkeit geht es nämlich in den Grundzügen bei allen Formen des urbanen Zusammenlebens um ähnliche Probleme.
Access for All. São Paulo’s Architectural Infrastructures
Andres Lepik and Daniel Talesnik
210 x 280 Millimeter
224 Pàgines
192 Illustrations
Hardback
ISBN 9783038601630
Park Books
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