Leistbar und inklusiv – Wohnen an der Huebergass in Bern
Das Quartier Huebergass und der Stadtteilpark Holligen in Bern sind in einem kollaborativen Prozess entstanden. Architektin Eva Herren, Landschaftsarchitekt Florian Seibold und Sozialraumplaner Martin Beutler stellen das zukunftsweisende Projekt vor.
Frau Herren, Herr Seibold, Herr Beutler, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?
Eva Herren: Die Huebergass in Bern entspricht in vielen Punkten den von der UNO formulierten Nachhaltigkeitszielen. Diese waren auch Thema des diesjährigen UIA-Kongresses in Kopenhagen, an welchem das Projekt ausgestellt wurde.
Im Berner Stadtteil Holligen geht man im genossenschaftlichen Wohnen neue Wege: Anstelle eines städtischen Familiengartenareals sind über 100 preiswerte, inklusive Wohnungen entstanden – und im Gegenzug ein Stadtteilpark. Am Anfang standen Fragen wie diese: «Wie werden die Genossenschafter*innen dereinst zusammenleben? Welche Instrumente und Räume müssen geschaffen werden, damit dieses Zusammenleben möglich wird?» Daraus wurde eine Charta formuliert. In der Entwurfsphase standen die Umsetzung dieser Charta sowie eine integrative Stadtteilplanung vor der eigentlichen Objektplanung und der partizipative Prozess kam vor dem durchgestalteten Raum. Entstanden ist ein Projekt, das die Nachbarschaft, die Bewohner*innen und auch die Landschaft berücksichtigt.
Martin Beutler: «Stell dir vor, wie wird das tönen, wenn all die Menschen hier leben werden?» Aus dieser Frage und den umgebenden Quartierstrukturen entwickelte sich unser wichtigster Kunstgriff, der alles miteinander verbindet: die Gasse. Sie ist Zentrum und Rückgrat unseres Gesamtkonzepts. Sie ist die pulsierende, sämtliche gemeinschaftlichen und privaten Räume erschliessende Mittelachse der Siedlung: Hier kreuzen sich die Wege, hier trifft man sich. Von hier aus sind die Wohnungen, die Gemeinschaftsräume wie das inzwischen vom Quartier betriebene Café, der Veranstaltungssaal und die Waschsalons sowie die Ateliers gleichermassen zugänglich.
Die auffälligen, zur Gasse hin orientierten Vorbauten aus Holz sind Treppenaufgänge und private Balkone in einem, sodass eine offene Kommunikation stattfinden kann, sobald man die eigene Wohnung verlässt. Denn unser erklärtes Ziel war es, das Bestehende mit einem weiteren Stück Quartier fortzuschreiben, das Schwellenräume, Übergänge sowie Nachbarschaften zwischen innen und aussen, zwischen Quartier und Stadtpark, Gärten und Umfeld zulässt.
Florian Seibold: Städtebaulich schreibt die Huebergass die ringsherum bestehende Quartierstruktur fort. Auch auf der kulturellen Ebene wollten wir beim Bestehenden anknüpfen – keine exklusive Siedlung schaffen also, sondern einen integrierten Quartierbaustein.
Zum Beispiel wurden für den Park in einem partizipativen Prozess Ideen und Elemente geprüft, die im neuen Park ihre Spuren hinterlassen. Aber es ist auch Raum für Neues. Der Stadtteilpark ist Ausdruck eines neuen Verständnisses: Er ist nicht als vorgefertigter Freiraum konzipiert, in dem die Menschen kurzzeitig zu Gast sind, sondern vielmehr als offene Bühne des Lebens; als räumliche und soziale Grundstruktur, die von den Nutzenden laufend weiterentwickelt wird.
Eva Herren: Die in der erwähnten Charta formulierten Grundsätze des Zusammenlebens und das nutzerorientierte Denken in Szenarien haben den Entwurf massgeblich beeinflusst. Dabei ging es mehr um den Ort, die Nutzungsarten und Stimmungen als um das Objekt. Wir wollten einen gesamtheitlichen und attraktiven Ort gestalten, der den Menschen und Bestehendes gleichermassen respektiert. Wir wollten eine Bühne schaffen, auf der Nutzer*innen ihre «Stücke» leben können und zukünftige Entwicklungen möglich sind, auch wenn wir sie uns heute noch gar nicht vorstellen können.
Martin Beutler: Das starke Bild des Zusammenlebens im preisgünstigen Wohnungsbau gab uns von Anfang an die Richtung vor. So wurde jeder Entscheid der Optimierung oder Priorisierung daran gemessen. Nicht zwingend Notwendiges wurde weggelassen. Es ging dabei aber weniger um Verzicht, als vielmehr darum, die daraus entstehenden Potenziale zu nutzen. Das mentale Bild des Zusammenlebens und auch das visuelle der Gasse haben sich durch diesen transdisziplinären Prozess noch gefestigt. Und mehr noch: Sogar unser anfängliches Klangbild, die Vorstellung der Geräuschkulisse in der Gasse, ist Realität geworden.
Eva Herren: Die Huebergass manifestiert unsere Art und Weise der Zusammenarbeit: Interdisziplinäre Teams und transdiziplinäre Arbeitsweisen ergeben starke nutzerorientierte Bilder, Suffizienz, einfache und solide Systeme und vor allem Kollaboration mit Kund*innen, Nutzer*innen und Vertreter*innen externer Fachbereiche. Alles bedingt einander, sollen zukunftsträchtige Räume geschaffen werden.
Eva Herren: Ich denke, es zeichnet sich ein Trend zu einer interdisziplinäreren Arbeitsweise ab, die wirklich auf Augenhöhe funktioniert und nicht bloss scheinbar in Form von den Architekten unterstellten Fachgebieten. Aus unserer Sicht beeinflusst die Zusammenarbeit über Disziplingrenzen hinweg unsere Arbeitsabläufe und Ergebnisse, und zwar positiv.
Obwohl das Projekt nicht mehr ganz neu ist, berücksichtigt es beispielsweise das Thema der Suffizienz. Um Material und Energie zu sparen, wurde das Volumen der Untergeschosse soweit wie möglich minimiert: Nur die Hälfte der Gebäude verfügen über einen Keller. Mit der Auslagerung der Treppenhäuser vor die Bauten konnten wir ausserdem den Energieverbrauch reduzieren, und die Baukörper sind ganz den nutzbaren Räumen vorbehalten. Mit dem Einsteinmauerwerk konnten wir ferner den Schichtenaufbau vereinfachen und Systeme trennen. Nicht zuletzt war dies auch ökonomisch interessant.
Martin Beutler: Die eher reduzierten, effizienten und resilienten Grundrisse und die grosszügigen gemeinschaftlichen Angebote ermöglichen sich gegenseitig und bilden die Grundlage für die Stimmung und das gute Zusammenleben in der Überbauung. Die offenen Wohnungszugänge und belebten Erdgeschosse ermöglichen den gemeinschaftlichen Austausch.
Florian Seibold: Und in der nicht unterkellerten Gasse prägen grössere Bäume und ein Regenwassersystem die räumliche Atmosphäre. Sie beeinflussen auch das Gassenklima positiv.
Huebergass und Stadtteilpark Bern
Standort
Huebergass 3–13, 3008 Bern
Nutzung
Genossenschaftlicher Wohnungsbau (103 Mietwohnungen) mit Gemeinschaftsflächen
Bauherrschaft
Wohnbaugenossenschaft «Wir sind Stadtgarten», Bern
Architektur
GWJ Architektur AG, Bern
ORT für Landschaftsarchitektur, Zürich
Soziale Plastik, Bern
Fachplaner
Statik: Bill Weyermann Partner AG, Koppigen
HLKKS und GA: Planung Climeco AG, Bern
Sanitärplanung: Climeco AG, Bern
Elektroplanung: Toneatti Engineering AG, Bern
Brandschutzplanung: Siplan AG, Bern
Akustik und Bauphysik: Marc Rüfenacht Bauphysik & Energie, Bern
Totalunternehmung / Bauleitung
Halter AG, Bern
Fertigstellung
2021
Fotos
Damian Poffet und Susanne Goldschmied, beide Bern