Elisabeth Schweeger: «Der ländliche Raum wird gegenüber dem urbanen vernachlässigt»
Ulf Meyer
21. mars 2023
Elisabeth Schweeger ist Literaturwissenschaftlerin, Kulturmanagerin und Intendantin. (Foto: © Arge Lola)
2024 wird eine ganze Region den Titel «Kulturhauptstadt Europas» tragen: Bad Ischl und das Salzkammergut in Österreich. Elisabeth Schweeger hat mit uns über das grosse Kultur-Programm gesprochen, mit dem das gefeiert wird.
Der Titel «Kulturhauptstadt Europas» (von 1985 bis 1999 «Kulturstadt Europas») wird jährlich von der Europäischen Union vergeben. Seit 2004 geht er immer an mindestens zwei Städte gleichzeitig. Die Auszeichnung soll dazu beitragen, den Reichtum und die Vielfalt des europäischen Kulturerbes sichtbar zu machen. Ausserdem soll sie zur Verständigung der Menschen in den verschiedenen Teilen des Kontinents beitragen.
2024 wird nicht eine Stadt, sondern eine ganze Region diesen Titel tragen: Bad Ischl und das Salzkammergut, die ostwärts der Stadt Salzburg liegen. Die Gegend, die sich über zwei Bundesländer erstreckt, ist einst durch den Salzabbau reich geworden. Die Geschichte des Salzhandels begann vor 7000 Jahren in dem Örtchen Hallstatt. Heute hat die Region allerdings mit verschiedenen Problemen zu kämpfen, etwa mit einer schwachen Infrastruktur und der Abwanderung insbesondere junger Menschen.
Elisabeth Schweeger, Literaturwissenschaftlerin, Kulturmanagerin, Intendantin und die Leiterin des Kulturhauptstadtjahres, stellte das Kultur-Programm, mit dem der Titel gefeiert wird, auf der Internationalen Tourismus-Börse (ITB) in Berlin vor. Es umfasst viele interessante Beiträge zu Themen der Architektur, der Baukultur, der Raumplanung und der Mobilität. Wir sprachen mit ihr anlässlich der Präsentation.
Der Altausseer See liegt im steirischen Teil des Salzkammerguts. Die Kulturhaupstadtregion erstreckt sich über zwei Bundesländer. (Foto: © Jacqueline Korber)
Frau Schweeger, spätestens seit Rem Koolhaas’ Ausstellung über die Countryside ist das Interesse am Landleben im Architekturdiskurs neu erwacht. Bad Ischl hat nur 12'000 Einwohner und wird dennoch zur «Kulturhauptstadt».
Die Kulturhauptstadtregion Salzkammergut besteht neben Bad Ischl aus 22 Gemeinden in den Bundesländern Oberösterreich und Steiermark. Insgesamt leben dort etwa 110'000 Menschen, und es handelt sich um eine Kulturregion mit einer eindrucksvollen Landschaft. Der Titel «Kulturhauptstadt» wird seit 1985 von der EU verliehen, geht aber 2024 erstmals an eine alpine ländliche Region.
Wir haben das Programm in vier Schwerpunkte aufgeteilt: Sie heissen «Macht und Tradition», «Kultur im Fluss», «Sharing Salzkammergut – Die Kunst des Reisens» und «Globalokal – Building the New».
Die romantische alpine Landschaft übte schon im 19. Jahrhundert auf viele Künstler einen grossen Reiz aus und machte das Salzkammergut zu einem Sehnsuchts- und Zufluchtsort und auch zum Sujet für Künstler wie Gustav Klimt. Sie setzen im Kulturhauptstadtjahr aber ganz auf lokale und regionale Projektträger: Von den 150 Projekten werden mehr als drei Viertel von regionalen Initiativen ausgeführt.
Eine Kulturhauptstadt entwickelt sich mit den Menschen, die in der Region leben und arbeiten. Es entstanden Projekte mit lokalen Trägern und Künstlern, die die europäische und internationale Dimension beinhalten. Es geht also um eine Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden. Es soll sich ein Dialog mit den Kulturen Europas und der Welt entwickeln. Wir kooperieren natürlich auch mit Tartu in Estland und Bodø in Norwegen, die den Titel «Europäische Kulturhauptstadt» im Jahr 2024 ebenfalls tragen werden.
Das kreative Potenzial der Region hat sich auch bei einem Open Call gezeigt: Mehr als 1000 Ideen wurden eingereicht. Mit einem «Marktplatz der Ideen», also einer Art Messe für Künstler, haben wir in Anwesenheit der örtlichen Bürgermeister, Fördergeber und Agenturen ein Netzwerken ermöglicht, um den Austausch innerhalb der Szene zu fördern, da wir nur einige wenige Projekte realisieren können.
Elisabeth Schweeger an einer Presskonferenz im Stephaneum (Foto: © Edwin Husic)
Die Region gehört zu den touristisch am besten erschlossenen Gebieten Österreichs, dennoch ziehen viele junge Menschen weg. Es besteht ein Fachkräftemangel, und die Leerstandsquote ist hoch. Betrachten Sie auch diese Themen?
Das Gefälle vom industrialisierten Norden zum touristischen und agrarischen Süden könnte als Paradebeispiel für viele Regionen Europas gelten. Der ländliche Raum wird gegenüber dem urbanen vernachlässigt. Es gilt also, Impulse zu vermitteln. Daher müssen Strategien entwickelt werden, die ermöglichen, dass vor allem junge Menschen bleiben oder auch neu zuziehen, was aber nicht zu einer «Urbanisierung» der Region führen sollte.
Auch der Klimawandel zwingt zum Umdenken. Wir haben zunächst über die Professorin Sabine Pollak von der Kunstuniversität Linz angehende Architekten engagiert, die eine detaillierte Leerstandserhebung gemacht haben, um Räume zu finden, in denen Menschen kreativ sein können. Es geht darum, Revitalisierung von Leerstand anzuregen, bevor neu gebaut wird. Wir möchten erreichen, dass Boden nicht weiter versiegelt wird. Wir wollen mit Kunst Orte aufladen – mit Artist-in-Residence-Programmen beispielsweise – und Leerstände wie Bahnhöfe beleben. Ohne Raum für Kreative gibt es kaum Kultur.
Sie beschäftigen sich auch mit dem etwas sperrigen, aber wichtigen Thema der Bodenversiegelung. Geht es darum, bestehende Versiegelung poröser zu machen oder neue zu verhindern beziehungsweise wenigstens zu vermindern?
Beides. Zusammen mit Professor Arthur Kanonier von der TU Wien setzen wir Elemente seiner «Bodenstrategie» im Salzkammergut erstmals exemplarisch um.
Das Stephaneum in Bad Goisern der Schulbrüder beispielsweise wurde 2012 geschlossen und soll anlässlich des Kulturhauptstadtjahres wieder in Betrieb genommen werden.
Ja, und zwar für die erwähnten Künstler-Residenzen, für kulturelle Veranstaltungen und teilweise auch als Hotel. Das Projekt «Salzkammergut Craft Art Lab» (SCALA) wird dort noch heuer mit Aktivitäten starten. Ein Team aus Otelo Goisern und Hand.Werk.Haus Salzkammergut erarbeitet bereits seit 2021 in Abstimmung mit der Marktgemeinde Bad Goisern und der Europäischen Kulturhauptstadt ein Austauschprogramm mit internationalen, nationalen und regionalen Künstlern und Handwerkern, das Kunst und Handwerk zusammenführt.
Die Region hat auch eine eigene Holzbautradition …
Richtig. Mit unserer Veranstaltungsreihe «Simple Smart Buildings» untersuchen wir, welche Materialien und Techniken verwendet werden können, die unter anderem auch in der Vergangenheit eingesetzt wurden, um resiliente Häuser zu bauen. Dauerhaft, nachhaltig und schön zugleich zu bauen, ist alles andere als ein Widerspruch. Es handelt sich um partizipative Formate, die für die lokale Bevölkerung, Gemeindemitarbeiter, Architekten und Interessierte entwickelt werden, um Wege zu einem sparsamen Umgang mit Ressourcen zu erarbeiten. Die Zukunft wird Häusern gehören, die aus dem Grundsatz des achtsamen Umgangs mit lokal vorhandenen Baustoffen gebaut werden – simple Gebäude, die wenig Ansprüche stellen und Menschen dienen, die ohne Zutun einfach lange und gut funktionieren. Sechs Workshops werden sich Themen wie Holz, Kalk, Lehm und historischer Substanz annehmen. Zusätzlich gibt es das Angebot «Lust auf Baukultur» des Vereins LandLuft. Bei diesem wird auf Vermittlung und gute Beispiele gesetzt.
Das Lehár Theater ist ein Sanierungsfall. Es soll künftig weiter als Theater und Kino dienen, aber auch zu einem Ort für die Bevölkerung werden. (Foto: © Kulturhauptstadt Bad Ischl)
Es gibt im Salzkammergut nur eine schwache kulturelle Infrastruktur. Das Lehár Theater in Bad Ischl, 1827 von Franz Edangler entworfen, ist einer der bekannteren Kulturorte in der Region.
Das Lehár Theater ist ein Sanierungsfall. Es wurde nun endlich von der Gemeinde Bad Ischl angekauft, womit die Renovierung eingeleitet werden kann. Es soll zukünftig wie bisher als Theater und Kino genutzt werden, aber auch als Ort für die Bevölkerung und ihre Vereine. Eine Stadt wie Bad Ischl braucht solche kulturellen Orte, um das ganze Jahr über attraktiv zu bleiben, nicht nur in den Sommermonaten.
Der Kongress «Zukunft bauen», der von der Wiener Architektin Marie-Therese Harnoncourt und Sabine Kienzer kuratiert wird, hat zum Thema, wie im ländlichen Raum in Zukunft zu bauen ist, wie darbende Landwirtschaft, florierender Tourismus und die alten Handwerkstraditionen der Region zueinander finden können. Er wird in Hallstatt stattfinden.
Zwölf Bahnhöfe der Region werden zu Orten der Kunst und der Kultur. Die Erschliessung der Gegend durch den ÖV soll besser werden, um Staus künftighin zu vermeiden. (Foto: © Ella Raidel)
Ist Mobilität ein Thema des Kulturhauptstadtjahres?
Gemeinsam mit den ÖBB (Österreichische Bundesbahnen) haben wir zwölf Bahnhöfe benannt, die entlang der einzigen und eingleisigen Bahnstrecke im Salzkammergut liegen und in das Kultur-Programm involviert werden. Wir wünschen uns auf der Strecke eine Ausweitung der Fahrzeiten vor allem in den Abendstunden und am Wochenende. Es gibt seit diesem Jahr bereits einen Direktzug von Wien und retour pro Tag.
Um das Problem der «letzten Meile» in die Seitentäler zu lösen, wird an der Erweiterung eines Shuttle-Systems gearbeitet. Wir wollen keine Staus mehr. Das könnte sich auch auf den Tourismus auswirken und zu einer Entschleunigung führen. Vielleicht ziehen wir so am Ende neue Gäste an. Einer unserer Programmschwerpunkte heisst deshalb «Die Kunst des Reisens».
Die Region hat auch eine dunkle Geschichte: Während des Zweiten Weltkriegs gab es ein KZ in Ebensee, und in geheimen Stollen sollte an neuer Waffentechnik gearbeitet werden. Thematisieren Sie das auch?
Gewiss, Erinnerungskultur ist fester Bestandteil des Programms. Das Salzkammergut bietet im Kleinen, was Österreich im Grossen ausmacht – im Guten wie im Schlechten. Es ist eine geschichtsträchtige Region, die durch den Salzabbau reich geworden ist, viele Einflüsse erlebt hat – von der Arbeiterbewegung über den Protestantismus, die Habsburger Herrschaft und die Sommerfrische bis hin zum Tourismus – und eine teils jüdisch geprägte Kulturszene besitzt. Diese wurde im Nationalsozialismus völlig zerstört. An das jüdische kulturelle Leben werden wir unter anderem mit künstlerischen Interventionen, Ausstellungen und einer Salonkultur, die allesamt Gespräche und Diskussionen ermöglichen werden, erinnern.
Vielen Dank für das Gespräch.