ISOS – Freund und Helfer
Manuel Pestalozzi
26. enero 2017
Wo sind wir hier? Der Ort der Tagung ist im ISOS und dergestalt im Internet abrufbar. Er liegt in der Zone A. Bild: ISOS/BAK
Das Inventar schützenswerter Ortsbilder von nationaler Bedeutung der Schweiz (ISOS) hat in letzter Zeit eher negative Schlagzeilen gemacht. Das Bild des Stolpersteins für die Verdichtung wurde am 24. Januar an einem Anlass in Aarau korrigiert.
415 Fachpersonen, überwiegend aus Behörden, Planungs- und Architekturbüros, hatten sich angemeldet, rund 200 Interessierten musste eine Absage erteilt werden. «Das ISOS und die gebaute Schweiz von morgen» erwies sich somit als Magnet für ein Insider-Publikum. Die Veranstalter, der Schweizer Heimatschutz SHS, die Vereinigung für Landesplanung VLP-ASPAN und das Bundesamt für Kultur BAK nutzten die Gunst des Augenblicks gut. Sie stellten mit offensichtlichr Hingabe ein reichhaltiges und umfassendes Programm zusammen. Im Zentrum stand das Verhältnis des ISOS mit der aktuell angesagten und betriebenen inneren Verdichtung gemäss dem revidierten Raumplanungsgesetz.
Ein erster Themenblock befasste sich mit den ISOS-Grundlagen. Der ausgebildete Jurist und Musiker Yves Fischer vertrat als Stellvertretender Direktor des BAK seine krankheitshalber nicht anwesende Chefin Isabelle Chassot. Er bezeichnete den Ortsbildschutz als «transversales» Thema und deutete zum ersten Mal an, was im Laufe des Tages bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt wurde: Die Verdichtung im Innern muss ab- und ausgewogen werden, das ISOS bietet Hilfestellung für massvolle, qualitativ befriedigende Lösungen. In erster Linie erinnert das Inventar an die Pflicht, sich mit der Geschichte von gebauten Orten auseinanderzusetzen.
Wie es dazu kam, das ISOS zu erstellen, erzählte Patrick Schoeck, Leiter Baukultur des SHS. Das ISOS ist ein Kind der Hochkonjunktur, analog zur allgemeinen Denkmalpflege-Mentalität von heute, über die der Redaktor kürzlich einen separaten Hintergrundartikel verfasste. Schoeck zeigte anhand einer «Fieberkurve der Bauaufgaben», wie sich die Sorge um das gebaute Erbe der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkte, was zum Natur- und Heimatschutzgesetz von 1966 führte. Das Gesetz führte zur Notwendigkeit, auf Bundesebene Inventare zu erstellen – schliesslich mussten den Worten konkrete Inhalte beigegeben werden. Der Start des ISOS fiel 1972/73 mit dem Ende der Hochkonjunktur zusammen. Ein Team um die junge Architektin Sibylle Heusser konstruierte ein Gerüst aus Kategorien und Wertungskriterien, die mit einer klaren Methodik Ordnung in die Vielheit bringt. Nach diesen Vorgaben wurden rund 6000 Ortsbilder inventarisiert. Betreut werden allerdings nur deren 1300 – jene mit der Wertung «von nationaler Bedeutung».
ISOS-Zugang über das Internet
Das ISOS ist heute mit 56 teils mehrbändigen Werken verfügbar, die online bestellbar sind. Die einzelnen Ortsbildaufnahmen lassen sich auch über die digitalisierten Karten der Landestopographie als PDF herunterladen. Die Dokumente bestehen aus einer fotografischen Dokumentation, einem Aufnahmeplan mit Legende sowie einem ausführlichen Ortsbeschrieb. Sie lassen erkennen, welcher Wissensschatz zusammengetragen und ausgewertet wurde. Bild: map.geo.admin.ch
Rechtsverbindlich, keine Käseglocke
Architekt Oliver Marin, Leiter Sektion Heimatschutz und Denkmalpflege des BAK verwaltet das ISOS und seine Zugänglichkeit. Er erinnerte daran, dass das ISOS bei aller Wissenschaftlichkeit und der geballten Fachkompetenz einen sentimentalen Hintergrund hat: Umfragen ergaben, so sagte er, dass ein Grossteil der Bevölkerung gerne in intakten, historisch fundierten Siedlungsumgebungen leben möchten – und sogar bereit seien, dafür mehr zu bezahlen! Er empfahl dem Publikum, sich prinzipiell vor Planungsbeginn die ISOS-Aufnahmen zu Gemüte zu führen und mit ihrer Hilfe gebaute Qualität zu schaffen. Damit liessen sich «Brüche» und «Bausünden» vermeiden. Er wies auch auf die Rechtsverbindlichkeit der ISOS-Wertungen hin.
Treffenderweise folgte auf den Kulturfunktionär der Rechtsanwalt. Lukas Bühlmann, Direktor des VLP-ASPAN, erläuterte zwei jüngere Streitfälle, in denen die Kategorisierungen und Wertungen des ISOS als Argument aufgeführt wurden. Im Falle von Rüti, dem Swiss-Architects bereits eine Meldung widmete, entschied das Bundesgericht zugunsten des Beschwerdeführers, eine von anderen Instanzen bereits abgesegnete Überbauung wurde stärker der bestehenden Umgebung im Ortskern angeglichen. In Schaffhausen wies das Bundesgericht beim Projekt im Villenquartier Steig eine ähnlich begründete Beschwerde ab. Die Gemeindebehörden hätten sich seriös mit dem ISOS auseinandergesetzt und einer vertretbaren Lösung zugestimmt, urteilte es. «Das ISOS ist keine Käseglocke», folgerte Lukas Bühlmann. Es gewähre den Gemeinden durchaus Ermessenspielraum und helfe gerade bei Verdichtungsvorhaben mit, vorhandene Strukturen und Qualitäten weiterzuentwickeln.
Aaraus ehemaliger Stadtgraben mit der Platanenallee haben als Umgebungszone das ISOS-Erhaltungsziel a. Das Inventar widmet sich auch den Freiräumen. Bild: Manuel Pestalozzi
Herausforderungen für die Kantone
Der Auftritt offizieller Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Kantone zeigte sehr deutlich, dass die Konfrontation mit Verdichtungsaufgaben und auch der Verdichtungsdruck unterschiedlich intensiv ausfällt. Auch die Auseinandersetzung mit dem ISOS spiegelt diesen Sachverhalt wider. Paolo Poggiati, Leiter des Amtes für Raumentwicklung des Kantons Tessin, ist mit völlig gegenläufigen Entwicklungen in den Bergregionen und dem Fondovalle konfrontiert. So stellen sich beim Ortsbild in Fusio ganz andere Fragen als etwa in Morcote. Das ISOS ist im bestehenden Richtplan noch wenig berücksichtigt, werde aber als Instrument zur Erkennung von Siedlungsqualitäten beigezogen.
Im Kanton Freiburg ist man seit 2002 dabei, das ISOS in die Pläne der Ortsplanung zu übertragen. Anhand des Beispiels von Châtel St-Denis zeigte Giancarla Papi, Vorsteherin des kantonalen Bau- und Planungsamtes, wie sich dieser Prozess auf den Zonenplan auswirkt. Dieser Vorgang führte bei Eigentümerinnen und Eigentümern zu erfolglosen Protesten: einerseits gegen den Eintrag, andererseits aber auch wegen mangelndem Schutz – weil man sich potenzielle Nachbarn vom Leibe halten wollte. Mit dem Fonds des vom RPG verlangten Mehrwertausgleich will der Kanton Fribourg Studien zu sinnvollen, ortsbildverträglichen Verdichtungsstudien finanzieren. Sacha Peter, stellvertretender Amtsleiter des Amts für Raumentwicklung des Kantons Zürich trübte den allgemeinen ISOS-Optimismus im Zusammenhang mit der Verdichtung leicht, da er doch manchmal als «Überdosis Heimatschutz» verstanden wird. Und das Inventar kann mit den gesetzten Verdichtungszielen kollidieren, wie das erwähnte Beispiel Rüti, bei dem die Dichte etwas reduziert wurde, andeutungsweise zeigt. An den Projekten Friesenberg, ETH Hönggerberg und Schlüsselareal CU in Uetikon am See zeigte er aber, dass das ISOS durchaus gangbare, akzeptable Lösungen zulässt.
Nach einem Erfahrungsbericht des Planers Marin Eggenberger moderierte Kulturjournalistin Karin Salm mit Energie und Umsicht eine Diskussionsrunde, an der sich Referenten der ersten Tageshälfte beteiligten. Hinzu gesellten sich Architekturhistoriker Christoph Schläppi, und – quasi als «Spielverderber» – Michel Baumer, FDP-Gemeinderat in der Stadt Zürich. Niemand habe in Zürich auf das ISOS gewartet meinte er und sieht im Inventar «noch ein Regelwerk» und eine unnötige «Einmischung aus Bern». Kritisch äusserte sich auch der Architekturhistoriker, indem er andeutete, dass man sich für die 80 Prozent der Ortsbilder, die nicht von nationaler Bedeutung gemäss ISOS sind, in gleichem Masse verantwortlich fühlen müsse. Es gelte, Fett ins Getriebe zu geben, anstatt Sand hineinzustreuen.
Erste Diskussionsrunde mit Vertretern aus kantonaler Raumplanung, Bundesbern, der Architekturgeschichte und dem Gemeinderat der Stadt Zürich brachte auch kritische Stellungnahmen. V.l.n.r. Paolo Poggiati, Oliver Martin, Christoph Schläppi und Michel Baumer. Es moderierte Karin Salm. Bild: Manuel Pestalozzi
Anpassung und Widerstand
Die zweite Tagungshälfte wurde mit «Reflexionen» eingeleitet. Der junge Architekturhistoriker Melchior Fischli warf in einem virtuos vorgetragenen Überblick ein kritisches Licht auf das angepasste kontextuelle Bauen. Interessant war die Präsentation des Wandlungsprozess der rechtsufrigen Altstadt von Zürich im mittleren 20. Jahrhundert. Fischli beobachtet stirnrunzelnd Überformungen oder Parodierungen. Er machte auch die Feststellung, dass das «zufällige Echte» gelegentlich im Weg steht und – weil nicht dem Massstab der Umgebung entsprechend – zum Abschuss freigegeben wird, was beispielsweise mit den berühmten Nagelhäusern in Zürich West geschehen sei.
Nicoleta Acatrinei, Ph. D. in Public Administration, vertrat die Meinung, dass dem ISOS die Seele fehle. Sie betreut eine Studie, die den Ursachen des Altruismus nachgeht. Eine Gegenüberstellung des habitat-hériter mit dem habitat anonyme führte sie zum Schluss, dass der passende Kontext den wünschbaren sozialen Altruismus mehr fördert als das Primat Verdichtung. Sie plädierte für eine «Mnemonische Konvergenz der sozialen Netze», was nur Wasser auf die Mühlen der Befürworterinnen und Befürworter einer Verdichtung unter Berücksichtigung des ISOS sein kann.
Kritisch zu den Folgen der Verdichtung, welche auf das bestehende Ortsbild eingeht, äusserte sich auch Stefan Kurath. Der Architekt und Leiter des Institut Urban Landscape der ZHAW richtete den Fokus auf die Freiräume. Am Beispiel des Ersatzneubauprojektes Burriweg in Zürich-Oerlikon zeigte er, dass eine Verdichtung unter Berücksichtigung bestehender Siedlungsstrukturen die Qualität der Aussenräume beeinträchtigen kann. Bauen und Freiraumplanung müssten in diesem Kontext auf gleicher Augenhöhe diskutiert werden, forderte er.
Das Baudepartement der Stadt Zug hat für die Gartenstadt Zug, ISOS-Kategorie A, ein Gestaltungshandbuch herausgegeben, das den Bauwilligen Leitplanken bietet. Bild: www.stadtzug.ch
ISOS als Instrument
Weiterbauen mit ISOS praktiziert man im Wallis und in der Stadt Zug. Auf Benoît Coppey vom Staat Wallis folgte Zugs Stadtarchitekt Christian Schnieper, der über die verdichtete Gartenstadt Zug berichtete. Die Gartenstadt ist gemäss ISOS-Aufnahmeblatt ein westseitig ans einstige Landis & Gyr-Industrieareal anschliessendes Arbeiterquarier mit neuklassizistischen Mehrfamilienhäusern, Doppeleinfamilienhäusern, Chaletbauten und Reihenhäuser, alle aus dem 20. Jahrhundert. Das Inventar hält das Erhaltungsziel A fest. Das heisst konkret: Erhalten der Substanz. Alle Bauten, Anlageteile und Freiräume sind integral zu erhalten, störende Eingriffe zu beseitigen.
Die Stadt Zug ist immer weniger Arbeiterstadt, das Wohngebiet hat sich in den letzten Jahren stark ausgedehnt und fasst die Gartenstadt mittlerweile ein mit Bauten, welche einen neuen, grösseren Massstab einführten. Man kann sich vorstellen, dass nicht alle Besitzerinnen und Besitzer der Gartenstadtparzellen mit dem ISOS vollkommen glücklich sind. Der Stadtarchitekt musste auch konstatieren, dass das vom ISOS bestimmte Erhaltungsziel nicht konsequent umgesetzt wird. Dies veranlasste ihn zum Erstellen eines speziell für die Gartenstadt konzipierten Handbuchs, das den Rahmen des Zulässigen absteckt. Das Druckwerk stellt keine Verbote auf, es gibt Empfehlungen ab. «Wird es die Versprechen einlösen? Die Zeit wird es zeigen», sinnierte der Stadtarchitekt, der sich aktuell mit vielen Baugesuchen in diesem Quartier auseinandersetzen muss.
Ein regelrechtes Kontrastprogramm waren die anschliessenden Ausführungen von Architekt und Berater Ivano Fasano, der im italienischsprachigen Teil des Bündnerlands die Consulenza in materia di strutturazione anbietet –im Vergleich zur Stadt Zug ein Heimspiel. Bauwillige sind im Misox und im Bergell meistens gut vertraut mit traditionellen Bautechniken und -formen, die kulturelle Kontinuität ist gegeben. Nicht umsonst hat die Gemeinde Bregaglis im vergangenen Jahr den Wakkerpreis erhalten.
Die launigen Ausführungen von Hans-Peter Wessels, Vorsteher des Bau- und Verkehrsdepartements Basel Stadt, schloss den Referatreigen ab. Am Rheinknie hat das ISOS bisher noch keine hohen Wellen geschlagen, die Beispiele Claraturm, Stadtcasino und Felix Platter-Spital betrafen ISOS-Gebiete. Man fand dort Lösungen, ohne dass das Inventar gross zur Sprache gekommen wäre. Die abschliessende Diskussionsrunde setzte sich nochmals kritisch mit der stadträumlichen Qualität von Verdichtungen auseinander, insbesondere bei der gleichzeitigen Berücksichtigung von Anliegen, die im ISOS enthalten sind. Einig war man sich, dass das ISOS zur Bewusstseinsbildung beiträgt und den Wert von Ortsstrukturen jenseits des Einzelobjekts erkennen lässt. Darüber, dass der Umgang mit dem Inventar pragmatisch sein sollte, herrschte an diesem Insider-Event Einigkeit. Die breite Allgemeinheit muss aber noch ins ISOS Boot geholt werden.